Großbritanniens regierende Elite: Brexit-Chaos ohne Not

17.1.2019, 08:36 Uhr

David Camerons Abgang mit guter Laune - der hohe Symbolkraft hat. © Andy Rain/epa

Die Fernsehsender zeichneten das Pfeifen Camerons auf, sein offensichtlich freudiger Abschied von der Macht ging um die Welt. Und nach seiner kurzen Musik-Einlage fügte er noch ein "Right" hinzu. Alles gut, frei übersetzt, alles richtig gemacht.

Schlichtweg verzockt

Keineswegs. Alles falsch gemacht. Cameron hatte sich verzockt: Er versuchte, mit der Ankündigung eines Brexit-Referendums auf der Insel seine Position für die nächsten Wahlen zu stärken – eines Referendums, das er selbst nie befürwortet hatte, aber trotzdem in Aussicht stellte. Das heißt: Da setzte sich jemand gegen seine eigene Überzeugung für eine seiner Ansicht nach falsche Politik ein, weil er hoffte, so seine Macht sichern zu können.

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Das ging schief, weil die Briten knapp für den Brexit votierten. Cameron kündigte prompt seinen Rückzug aus der Politik an, den er pfeifend vollzog. Diese Pfiffe – sie haben eine hohe Symbolkraft. Denn sie zeigen buchstäblich, dass da einer pfeift auf sein Amt und darauf, was aus dem Land wird, das er regiert hat. Einer, der sich dank seines Vermögens keinerlei ernsthafte Sorgen um seine Zukunft machen muss. Und da liegt eine der Ursachen dafür, dass das britische Regierungssystem nun offensichtlich nicht in der Lage ist, einen Ausweg aus der verfahrenen Situation zu finden: Es sind zu viele Hasardeure, zu viele Zocker unterwegs rund um Big Ben.

Eine Klassengesellschaft

Zum einen die überzeugten Nationalisten wie Nigel Farage, die in der EU ein Werkzeug des Bösen sehen – und auf den Rückenwind durch Boulevardmedien bauen können, die ähnlich argumentieren. Zum anderen zeigt sich da auch die nach wie vor existente Klassengesellschaft in Europas langlebigster Demokratie: Auf der Insel gibt es eine Adels- und Geld-Elite, der es letztlich egal ist, wer unter ihr das Land regiert. Der es auch egal ist, welche Folgen der Brexit hat – weil sie das leicht aussitzen können, ganz im Gegensatz zu Normalbürgern oder sozial Schwachen, die angesichts der Folgen vor allem eines harten Brexits durchaus um ihre Jobs bangen müssen. Boris Johnson ist der Auffälligste unter diesen sehr britischen Politikern, von denen viele noch von der alten Großmachtrolle des British Empire träumen. David Cameron gehört(e) auch dazu. Sie gehen gern volles Risiko, ohne Rücksicht auf Verluste.

Das Unterhaus als Kampfplatz

Das wiederholt sich momentan alle paar Tage im britischen Unterhaus, jenem altehrwürdigen Parlament, bei dem die Betonung inzwischen leider auf "alt" liegt. Denn derzeit präsentieren sich die Abgeordneten nahezu quer durch alle Reihen in einem desolaten Zustand.

Kompromisse? Konsens? Ringen um Lösungen? Alles klassische Instrumente in einem parlamentarischen System. Aber aktuell Fremdwörter in einer Arena des Kampfes, der Aggression und teils auch des Hasses.

 

Und eine Premierministerin, deren herausragendste (und vielleicht auch einzige) Eigenschaft eine unglaubliche Zähigkeit ist. Theresa May hat das schlimmste Desaster erlebt, das je ein britischer Regierungschef hinnehmen musste. Aber sie will auch nun weitermachen.

Konfus und selbstverliebt

Womit? Mit einem ebenso kompromisslosen Kurs, für den sie nie wirklich geworben, für den sie nie ernsthaft Unterstützer vor allem bei der Wirtschaft des Landes gesucht hat. Was die Briten – genauer: was ihre Regierenden eigentlich wollen: Es ist aktuell schlicht unmöglich, das zu sagen.



Was aber sollen die Europäer ihnen da nun noch anbieten, wenn man in Brüssel gar nicht weiß, wie man sich in London einen Kompromiss vorstellt? Die Labour-Opposition agiert ähnlich konfus und selbstverliebt wie die Tories: Labour-Chef David Corbyn will an die Macht. Was er dann mit ihr machen, wie er mit dem Brexit umgehen will? Das hat er noch nie so richtig klar gesagt.

Zurückhaltung ist eigentlich angesagt, wenn es um die Einschätzung anderer Regierungen geht. Aber dass Londons Elite aktuell kein gutes Bild abgibt, ist offensichtlich. Und beim Blick über den Ärmelkanal erscheinen die deutschen, von uns oft gescholtenen Politiker plötzlich wie Meister der Diplomatie und des Kompromisses. Sogar die vor kurzem noch wüst streitende Union präsentiert sich in ungewohnter Harmonie, die CSU übt sich in neuem, lange leider vermissten Engagement fürs Friedensprojekt Europa.

Grenzen von Referenden

Was das Beispiel Brexit auch sehr deutlich macht: Das Instrument Volksabstimmung/Referendum stößt bei derart elementaren Entscheidungen zumindest an Grenzen. Wenn nun, angesichts der von der britischen Politik lange verschwiegenen negativen Folgen des EU-Abschieds, womöglich eine Mehrheit der Briten gegen den Brexit votieren würde, dann zeigt dies auch, wie leicht veränder-, teils auch manipulierbar der vermeintliche "Wille des Volkes" ist.

Die repräsentative parlamentarische Demokratie nach britischem Muster war ja eigentlich auch anders gedacht: Eine repräsentative Auswahl des Volkes soll, stellvertretend für die Bürger, wichtige Weichen stellen. Ein System, mit dem nicht nur die Bundesrepublik durchaus gut gefahren ist – und fährt.