Kommentar zum Sondergipfel: Die EU wieder fit machen

22.7.2020, 16:39 Uhr

So groß die Erleichterung darüber war, dass der EU-Gipfel von Brüssel nach fünf Tagen erbittertsten Ringens doch noch zu einer Einigung fand, so klar ist dennoch: So kann Europa nicht weitermachen. So wird es vielleicht nicht zerfallen, aber an Bedeutung verlieren. Er wäre zu langsam, auf große Herausforderungen zu reagieren. Es muss sich ändern.

Um nicht missverstanden zu werden: Dass der Gipfel nicht platzte, ist eine diplomatische Meisterleistung. Trotz aller Mängel stimmt der Befund, dass keine andere Weltregion im Angesicht der Coronakrise ein solches Paket geschnürt hat, in dem reichere Staaten den schwächeren helfen. Und doch reicht das nicht.

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Es bringt wenig, jetzt auf die vermeintlich Schuldigen zu zeigen: auf die autokratischen Regierungen in Ungarn und Polen auf der einen und die "Sparsamen Fünf" auf der anderen Seite. Das wäre zu einfach. Die Ursachen liegen tiefer – und sind seit langem bekannt. Dort muss angesetzt werden. Die Ursünde, wenn man so will, für dieses elendigliche nationale Gefeilsche, für die Drohungen, alles platzen zu lassen, wenn. . . – all dies liegt Jahre zurück. Dieser unverzeihliche Fehler ist vor der EU-Osterweiterung von 2004 passiert. Er muss endlich behoben werden.

 

 

Die Gefahr, die politische Handlungsfähigkeit zu verlieren, wenn auf einen Schlag zehn ost- und südosteuropäische Staaten in die EU aufgenommen würden, war allen Beteiligten vorher bewusst. Dies zu verhindern, war das zentrale Ziel des EU-Gipfels von Nizza im Dezember 2000, damals noch mit nur 15 Staats- und Regierungschefs. Alle wussten, in der EU

würden nach der Erweiterung die Interessen der Mitglieder so weit auseinanderliegen, dass kaum noch eine Einigung zu erreichen wäre, wenn nicht in wichtigen Bereichen das Veto fallen würde. Doch genau daran scheiterte der Nizza-Gipfel.

Das hat Folgen

Stattdessen kam später ein Abstimmungsmodus in den Lissabon-Vertrag, der zwar in vielen Fragen doppelte Mehrheiten vorsah. Dennoch blieb das Veto auf zentralen Feldern erhalten. Welche Folgen das hat, konnte man beim jüngsten EU-Gipfel besichtigen.

Wie herauskommen aus dieser Sackgasse? Das Veto einfach abzuschaffen, wird nicht gelingen, weil genügend Staaten dies mit ihrem Einspruch verhindern würden. Soll man dann wieder die Idee einer EU der zwei Geschwindigkeiten aufgreifen? Darüber mag man nachdenken, doch das könnte auch zerstörerische Fliehkräfte in der Union freisetzen.

Vielleicht der einzige praktikable Weg wäre, das Europäische Parlament weiter zu stärken. Auch dort sind die Verhältnisse inzwischen kompliziert. Doch ein so gnadenlos nationalistisches Vorgehen, wie es im Rat der Staats- und Regierungschefs regelmäßig zu sehen ist, hat dort keine Mehrheit. Im Parlament sitzen die besseren Europäer. Sie brauchen mehr Kompetenzen, der Rat sollte welche abgeben müssen.