Vor dem Duell gegen Portugal

DFB-Elf: Torjäger dringend gesucht

19.6.2021, 14:31 Uhr

Dass er das Zeug zum EM-Überflieger hat, diesen Beweis ist Serge Gnabry beim 0:1 gegen Frankreich noch schuldig geblieben. © MATTHIAS HANGST, AFP

Wie psychologisch komplex und mitreißend die kleine Motivationsrede war, die Joachim Löw für das Abschlusstraining am Freitag vorbereitet hatte, ist nicht bekannt. Die Ohren der Spieler erreichten die Worte des Bundestrainers aber wohl nur bruchstückhaft. Übertönt wurde Löws energischer Vortrag von einem Fanbus, der zeitgleich das Adi-Dassler-Stadion in Herzogenaurach beschallte, die Message der musikalischen Einlage war nicht nur akustisch relativ einfach zu verstehen: "Deutschland, schieß ein Tor!", plärrte es aus den Lautsprechern in Richtung Trainingsplatz.

Ein vergleichsweise profaner, aber vermutlich nicht ganz verkehrter Ansatz, sollen für die DFB-Auswahl nicht schon nach dem zweiten Gruppenspiel am Samstag (18 Uhr/ARD und Magenta TV) in München gegen Portugal die Turnierlichter langsam ausgehen.

Das 0:1 zum Start gegen Frankreich hatte einmal mehr die Defizite in der deutschen Offensive aufgedeckt. Es fehlt an Durchschlagskraft, Präzision, Konsequenz, Esprit. Und wohl schlicht auch an Top-Stürmern auf höchstem internationalen Niveau, gerade im Angriffszentrum. Das letzte Stürmertor bei einem großen Turnier war Mario Gomez gelungen. Im EM-Achtelfinale 2016.

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Bezeichnend, dass in der abgelaufenen Bundesliga-Saison der treffsicherste deutsche Profi Lars Stindl hieß, mit 14 Toren belegte der Gladbacher in der Torjägerliste nur Rang sieben. Bei der EM ist er ebenso wenig dabei wie Max Kruse (elf Tore für Union Berlin), der die Spiele nun eben für seine Follower ganz gechillt und sisha-rauchend vom Whirlpool aus kommentiert.

Havertz droht die Bank

Ebenfalls elf Treffer gelangen Thomas Müller, Europameisterschaften sind aber irgendwie nicht das Terrain des bajuwarischen Raumdeuters: zwölf Spiele, null Tore. Müllers Vereinskollege Serge Gnabry (Saisonbilanz: zehn Liga-Tore für den FC Bayern), der bei Löw prinzipiell als gesetzt gilt, vergab gegen den Weltmeister die beste und eigentlich auch einzige deutsche Chance, agierte ansonsten aber eher unauffällig. Ein Urteil, das im Falle von Kai Havertz (vier Tore für Chelsea) wohl noch dezent untertrieben wäre. "Uns hat ein bisschen der Mut gefehlt im letzten Drittel", analysierte der Londoner Champions-League-Held und dürfte mit "uns" vor allem sich selbst gemeint haben.

Auch wenn Löw dafür bekannt ist, allzu radikale Personal- und Systemwechsel zu scheuen und lieber am großen Masterplan festzuhalten, könnte Havertz nun die Bank drohen. Die Alternativen im Kader heißen Leroy Sane (sechs Tore für den FC Bayern), Timo Werner (sechs Tore für Chelsea) und Kevin Volland (16 Tore für AS Monaco), wirklich aufdrängen konnte sich nach der Einwechslung gegen Frankreich aber keiner der drei Joker.

Keine Rochaden zu erwarten sind in der Defensive, die nach dem unglücklichen Eigentor von Mats Hummels gegen die flinken Mbappé, Griezmann, Pogba & Co. zumindest nicht kollabierte. Zwar soll es in der Mannschaft durchaus geteilte Meinungen zur von Löw präferierten Abwehrdreierkette geben, zumal Joshua Kimmich, eigentlich der Prototyp des dynamischen Sechsers, auf der ungeliebten rechten Außenbahn sein Potenzial kaum entfalten kann. Da nach Jonas Hofmann (Knieprobleme) auch Lukas Klostermann (Muskelverletzung) ausfällt, fehlen Löw auf dieser Position aber Alternativen.

Zumindest das deutsche Selbstbewusstsein hat durch die wohl nicht ganz unerwartete Auftaktniederlage keinen Schaden genommen. Die Stimmung in Herzogenaurach wirkte gelöst dieser Tage, es wurde gescherzt und gelacht. Mit düsteren Gedanken an ein Vorrunden-Aus wie bei der WM 2018 mag sich niemand herumplagen. "Es ist nichts passiert. Wir können noch alles geradebiegen", beschwichtigte Löw. Und notfalls könnte in der Hammergruppe F ja vielleicht sogar ein dritter Platz reichen fürs Achtelfinale. Dafür sollte man heute gegen den Europameister aber keinesfalls ein Debakel erleben.

Ronaldos Stigma

Rein statistisch gesehen scheint dieser Gedanke aber relativ abwegig: Schließlich gilt Portugal als eine Art "Lieblingsgegner", seit 2006 feierte die DFB-Elf bei Welt- und Europameisterschaften vier Siege in Folge (11:2 Tore). "Wir hoffen, dass wir mit dem fünften Sieg einen draufsetzen können", sagte Matthias Ginter. Der Gladbacher ahnt aber, dass ihn und seine Abwehrkollegen vor allem gegen einen gewissen Cristiano Ronaldo Schwerstarbeit erwarten dürfte, zumal dem exzentrischen Superstar ein Tor gegen Deutschland noch fehlt in der imposanten Sammlung.

Ein Studium von "Best-of-Szenen" des Juve-Profis will sich Ginter jedenfalls lieber ersparen: "Das könnte nicht so gut enden." Auch mit mittlerweile 36 Jahren zähle Ronaldo "immer noch zu den besten Stürmern der Welt", weiß Ginter, "da muss man höllisch aufpassen". Vielleicht hat ihnen Löw das am Freitag ja sogar zu sagen versucht.