Der macht es spannend

16.12.2016, 12:08 Uhr
Der macht es spannend

So also sieht der Ort aus, an dem Geschichten geboren werden. Tauchersreuth. Das „Dorf auf dem Berg“ genannt. Gut 100 Einwohner. Drei Krähen picken im gefrorenen Stoppelgras hartnäckig nach etwas Essbarem. Drüben: ein paar schöne Bauernhäuser, dann der historische Wasserspeicher, den man sich bei einer Führung erklären lassen kann. Eines fällt auf: Dass keiner da ist. Der Ort wirkt, als, — dieses kleine Wortspiel drängt sich dann doch förmlich auf – als seien alle abgetaucht. Es ist aber ein ganz normaler Vormittag, kurz vor halb zehn, da sind die Tauchersreuther halt „auf Ärbet“, wie man hier zu sagen pflegt.

Bei der Arbeit ist gewissermaßen auch Michl Zirk, der in dem Haus gleich am Ortseingang wohnt. Von dem aus man einen tollen Blick übers Land hat, 436 Meter hoch ist man hier. Die Fachwerkhäuschen schmiegen sich aneinander, der Wald wogt im Wind. Und im Winter kann man hier schon die Langlaufskier auspacken, während man im nahen Nürnberg über den Schneematsch stöhnt.

Auf den warmen Holzdielen liegt Kater Paul und hebt kaum den Kopf, als der Besuch über ihn drüber steigt. Wahrscheinlich ist Paul, der alte Herr, deshalb so tiefenentspannt, weil es nichts gibt, was ihn noch erschrecken könnte.

Denn Michl Zirk, der als Hauptberuf die wunderbare Bezeichnung Geschichtenerzähler angeben kann, übt fast alles, was er den Menschen da draußen berichten möchte, erst einmal vor dem Kater. Grässliches, Lustiges, Verrücktes, Kriminelles. Ob Schillers Räuber, Amor und Psyche, Ovid, Dramatisches aus der Bibel oder der griechischen Mythologie: Zu wärmeren Zeiten sieht man Zirk auch in seinem Garten, an dem eine kleine Straße vorbeiführt. Dann steht er halt dort, unterm Kirschbaum und kann nicht anders, als mit dem ganzen Körper die Geschichte zu erzählen, ehe er vors Publikum tritt.

Der macht es spannend

Dann fahren seine Arme wild durch die Luft. Die Hände ballen sich zu Fäusten, bilden Ebenen, sind aufgefächert wie Spinnennetze oder untermalen das Auf und Ab der mal leisen, mal lauten Stimme.

Jetzt zur Weihnachtszeit hat das Geschichtenerzählen wieder Hochsaison. Jede Woche tritt Zirk, der dem deutschen Verband der Erzählerinnen und Erzähler vorsitzt, mehrmals auf. Auf großen und kleinen Bühnen. Und jedes Mal aufs Neue ist der 57-Jährige gespannt, wie viele da nun vor ihm hocken und die Ohren spitzen. Neulich waren es nur zwei. Da musste der Abend abgeblasen werden. „Gehört schon mal dazu“, sagt er und zuckt mit den Schultern.

„Und was lesen Sie so?, werden wir immer wieder gefragt. Erzählen heißt erzählen, nicht vorlesen. Erzählen heißt auch nicht rezitieren. Erzählen heißt, eine Geschichte ins Leben rufen.“ (Verband der Erzählerinnen und Erzähler, kurz: VEE)

Hier nun aber, es ist ein Wochentag zur schönsten Weihnachtseinkaufsbummelzeit ist im Hinterzimmer des Künstlerhauses nahe des Nürnberger Hauptbahnhofs kein Stuhl mehr frei. Zirk hockt vorne, ganz entspannt an einem Tischchen und blickt verschmitzt durch die randlose Brille ins Publikum. 40 ältere Damen und fünf ebenso ergraute Herren haben es sich mit einem Pott Kaffee und Streuselkuchen vor sich bequem gemacht.

Der macht es spannend

Normalerweise wird hier täglich etwas vorgelesen. Die meisten nehmen gerne die Buchempfehlung mit nach Hause. Was sie wohl von Zirk erwarten? An den Tischen wird noch geplappert. Hier schnell eine Strickanleitung ausgetauscht, dort fingert ein älterer Herr am Handy. Er wird den Ausstellknopf nicht finden, weshalb das Gerät später mit einem seltsamen Lied in Zirks Geschichten hineinbimmelt, was diesen aber nicht aus dem Konzept bringt.

Dann erhebt sich Zirk: runder Kopf, raspelkurzes, lichtes Haar, Jeans, dunkelblauer Pullover. Die Hände ruhen sanft ineinander.

Plötzlich wird es still.
Und dann dauert es keine fünf Sekunden, bis er das Publikum für sich gewonnen hat.

„Märchen, aber auch Mythen, Geschichten, Anekdoten, Fabeln, Kurzgeschichten, Witze oder Gleichnisse. Erzählen lassen sich auch Filme, Opern oder Theaterstücke. Erlebtes und Fantastisches, Einfaches und Komplexes, Heiteres und Ernstes. Und noch viel, viel mehr.“(VEE)

Das moderne Nürnberg da draußen verschwindet, alle sind längst gedanklich mit der Postkutsche ins London des 19. Jahrhunderts eingebogen und erleben dort das abenteuerliche Schicksal eines jungen Engländers mit, der seine Schwester samt Schwager besuchen möchte.

Zirk schreit, wenn es Johann Peter Hebels Geschichte erfordert, so laut, dass die Dame mit dem weißen Haar, die ganz vorne sitzt, gehörig zusammenzuckt. Er lässt die Stimme holpern, er poltert, wenn nötig, über den Boden. Die Hände fahren den ganzen Stadtplan ab. Und alle folgen ihm. Der Applaus hinterher ist riesig. Und in den Gesichtern bleibt ein Strahlen zurück.

Rund 1000 Geschichten hat Zirk in seinem Repertoire. Anekdoten, erzählt von den betagten Einwohnern Tauchersreuths. Bekanntes, Unbekanntes, selbst Erlebtes. Auswendig lernt er sie nicht.

Der macht es spannend

Sehr wohl aber die Grundstruktur, anhand der er dann durch die Erzählungen spaziert. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich die Dinge zu merken, eine davon: Man verknüpft gedanklich Gesten und Mimik mit der Geschichte. Zirk kommt schließlich von der Bühne, war lange Zeit Dramaturg. Und darum ist es auch hier so, dass da auf der Bühne nicht einfach nur ein Mensch steht, allein. Alle Protagonisten sind seltsam präsent, auch wenn man sie nicht sieht: Die Kutsche rollt mit durch die Stuhlreihen der Zuhörer und die grölenden Hafenarbeiter da hinten, seht ihr sie nicht alle? Und spürt man den kalten Wind nicht förmlich um die eigene Schulter pfeifen?

Hohe Kunst, wenn einer das bei den Zuschauern auszulösen vermag.

Dabei hat die mündliche Erzählung derzeit schwer zu kämpfen. Wo sich früher in Schulen die Lehrerin häufiger auch mal Geschichten ausdachte, um den Kindern den Lernstoff näher zu bringen, ersetzt heute der Videobeamer das gesprochene Wort. In Schulbüchern wird nur gelesen, sie tönen nicht.

Dabei entfacht das Erzählen ein Fantasiefeuerwerk, wie es kein anderes Medium vermag. Und aus kleinen Plappermäulchen werden staunende Kinder mit großen Augen und gespitzten Ohren. Jetzt um die Weihnachtszeit herum und noch ein wenig länger, wenn man auf den Sofas und Eckbänken näher zusammenrückt, dann erinnert man sich wieder ans Erzählen, fragt vielleicht sogar die Oma, wie das so war in ihrer Kindheit. Oder lässt sich zum fünften Mal von der großen Schwester die gruselige Hexengeschichte erzählen, die jedes Mal ein anderes Ende findet.

Das Arbeiten mit dem Mundwerk ist ein Handwerk. Das kann man Lernen. Damit es nicht irgendwann völlig verlernt wird, ist Michl Zirk auch sehr dafür, dass das Erzählen in die Liste der Immateriellen Weltkulturerbe aufgenommen wird. Einen Antrag dafür hat er schon gestellt.

In Zirks Familie wurde eigentlich nicht viel erzählt. „Naja, sonntags, Geschichten über den Krieg.“ Da sei er aber kein begeisterter Zuhörer gewesen. Stattdessen kaute er schon als Bub lieber selbst den anderen, wie man so schön sagt, ein Ohr ab. Dass er gerne quasselt und quatscht hat ihm dann prompt ein Lehrer ins Zeugnis geschrieben.

Zum Erzählen kam Zirk dann trotzdem eher zufällig. Dem studierten Theologen kamen plötzlich Zweifel am Tun, er ging erneut zur Uni, diesmal interessierte ihn die Literaturwissenschaft, dann arbeitete er am Theater Mummpitz.

Das mit dem Erzählen geschah dann fast von alleine – und schließlich machte er sich selbstständig.

„Professionelle Erzähler sind moderne Troubadoure. Sie leben von der Einzigartigkeit, Unwiederbringlichkeit und Unnachahmlichkeit dessen, was sie erzählen und – vor allem – wie sie es erzählen. Darin besteht ihre Kunst.“ (VEE)

Erzählen ist ein Saisongeschäft. Heutzutage zumindest. Darum ist Zirk auch froh über seinen Lehrauftrag an der Uni, dort bringt er angehenden Lehrern bei, wie man — na klar! — erzählt.

Der Verband der Erzählerinnen und Erzähler will daher auch eine Ausbildung zum professionellen Geschichtenerzähler anbieten. Im Frühjahr 2017 soll’s losgehen.

Das, sagt Zirk, wäre ein großes Glück.

Ihm gehen die Geschichten ohnehin nie aus. Da ist sich auch der alte Kater Paul sicher. Denn er wird sie sich hier, in der Stille und Beschaulichkeit Tauchersreuths sowieso wieder als Erster anhören müssen.

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