30. Dezember 1969: Immer mehr Menschen in Hochhäusern

30.12.2019, 07:39 Uhr
30. Dezember 1969: Immer mehr Menschen in Hochhäusern

© Kammler/Ulrich

Sie kehren nach einem Arbeitstag durch die gleiche Haustür in ihr Heim zurück, sie benützen den gleichen Aufzug, haben die gleiche Gemeinschaftsantenne. Aber man kennt sich nur „gesichtsweise“, mehr nicht! Es ist, als stünde auf der Hausordnung obenan das Gebot „anonym bleiben!"

Vor sechs Monaten zog ein junges, kinderloses Ehepaar in ein Hochhaus südlich der Eisenbahnschienen. Jetzt, am Jahresende, hat das Paar von den 70 Mietparteien nur zwei näher kennengelernt: die Familie des fleißigen Hausmeisters und die freundliche Frau auf dem gleichen Korridor direkt gegenüber, die zuweilen eine Postsendung entgegennahm, wenn die jungen Leute abwesend waren.

Komische Situation im Aufzug

Dieses Ehepaar mit dem nicht allzu häufig anzutreffendem Namen Ruckdeschel hat – welch ein Zufall! – Namensvettern im gleichen Haus. Keiner weiß, wie die anderen Ruckdeschels aussehen, ob es ältere Leute sind und ob sie Kinder haben. Daß es sie aber gibt, merkt man immer wieder, wenn die Post im falschen Briefkasten landet. Was tut man? Man schreibt eine Entschuldigung auf das irrtümlich geöffnete Kuvert und deponiert es im richtigen Briefkasten. Den berufstätigen Eheleuten ist die im Hochhaus herrschende Anonymität höchst angenehm. Der Mann: „Ich störe niemanden, so hoffe ich wenigstens, und niemand stört mich. Ich will meine Ruhe haben.“ Doch immer wieder wird er sich der komisch wirkenden, ungemütlichen Situation im engen Sechs-Personen-Aufzug bewußt. Da steigen im Erdgeschoß mehrere Personen in die Kabine, um nach oben zu fahren. „Man sagt ,guten Abend‘ und weiß dann nicht mehr, wo man hinsehen soll. Man will nicht unhöflich sein und an den Leuten vorbeisehen, also senkt man den Blick auf den Fußboden und ist froh, wenn man aus dem Aufzug rauskommt.“

Die Untersuchung in einem Hochhaus, in das der Großteil der Mieter im Juli dieses Jahres einzog, läßt den Schluß zu: selbst die Bewohner eines Stockwerkes lernten sich kaum kennen und hatten auch nicht den Wunsch, mit dem Nachbarn Kontakt aufzunehmen. Eine 64jährige Kunstgewerblerin: „Das Hochhaus ist sehr unpersönlich. Aber das eine ist hier sehr schön: man macht seine Türe zu und ist für sich.“ Eine 25jährige Hausfrau sagte frank und frei: „Keine Kontakte – na prima! Deswegen wollte ich immer in ein so großes Haus. Ich will mir doch nicht dauernd, wenn ich raus und rein gehe, von anderen Leuten in meinen privaten Angelegenheiten rumforschen lassen.“

Trostlose Eintönigkeit

Vielleicht hat die 64jährige Hausfrau gar nicht unrecht, wenn sie feststellt: „Die jungen Leute sind so unnahbar geworden.“ Aber sie hat Verständnis für die Kontakt-Unlust. „Die Leute haben einen Beruf und kommen am Abend müde nach Hause. Wer hätte nach der Hetze noch das Bedürfnis, sich mit dem Nachbarn zu befassen.“ Ältere Leute freilich leiden etwas unter der Einsamkeit. Eine 68jährige Beamtin im Ruhestand sagte uns: „Wenn man noch den Ehepartner hat, ist es nicht so schlimm. Aber wenn man ganz alleine ist, können die Tage trostlos eintönig sein.“

Ein Ort im Haus bringt wenigstens einen Teil der Hausbewohner einander näher: der Wäscheraum mit der Münz-Waschmaschine. Hier verbindet die Hausfrauen die Sorge um Bunt- und Feinwäsche, und bei gemütlich rotierender Waschtrommel taut das Eis der Zurückhaltung etwas auf.

Selbst unter Hausgenossen, die sich fremd geblieben sind und die nie ein Wort miteinander gesprochen haben, kann leiser Groll gedeihen. Da ahnte zum Beispiel die Hausfrau in einem Langwasser-Hochhaus Schreckliches: „Mir is so, als ob die Partei, die am Ende des Korridors wohnt, ihre Fiess auf unserer Fußmatte abstreift. Das geht doch nicht, daß fremde Leit vor unserer Tür den Sand abladen.“ Fast in jedem Hochhaus kam auch schon einmal der Verdacht auf, daß da „ein ganz rücksichtsloser Mensch irgendwo da oben fortwährend den Lift aufhält, indem er einen Gegenstand in die Türe klemmt.

Jetz wart' ich schon bald eine halbe Stund auf den Aufzug.“ Und schließlich ist da noch der Teenager, der jeden Tag zehn Mal Mireille Mathieus Schallplatte „Je ne´ regrett rien“ abspielt. Wie Hohn klingt nach dem 50. Mal in den Ohren des unfreiwilligen Zuhörers die deutsche Übersetzung des Lieds: „Ich bereue nie.“ Doch das übereinstimmende Urteil fast aller Hochhausbewohner über den Nachbarn: „Ich kenne ihn nicht. Ein angenehmer Mensch.“

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