Kliniken kämpfen gegen Überlastung: "Als Experte bin ich dagegen, zu lockern"

8.12.2020, 16:31 Uhr
Gut 60 Prozent der Covid-Patienten, die aktuell auf einer Intensivstation landen, müssen auch beatmet werden. 

© Aaron Lavinsky, dpa Gut 60 Prozent der Covid-Patienten, die aktuell auf einer Intensivstation landen, müssen auch beatmet werden. 

Wenn es um die Weihnachtsfeiertage geht, dann klingt bei Christian Karagiannidis immer wieder Unbehagen durch. "Als Familienvater", sagt der Mediziner, "halte ich die Lockerungen für wichtig". Der Wissenschaftler, der er als Lungenarzt aber eben auch ist, ist deutlich skeptischer. "Es schlagen zwei Herzen in meiner Brust", sagt Karagiannidis.

"Als Experte bin ich dagegen, zu lockern." Zu groß sei die Gefahr großer Infektionsherde, die ihren Ursprung am Essenstisch zu Heiligabend haben. "Wenn das so abläuft wie in den USA und Kanada zu Thanksgiving, dann wird das eine richtige Katastrophe für uns." Die Behörden meldeten dort nur Tage nach dem traditionellen Familienfest neue Corona-Rekorde. Medien sprechen bereits von der "Thanksgiving-Welle".


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Droht in Deutschland nun die Weihnachts-Welle? Karagiannidis hält das für nicht unwahrscheinlich. Er ist Leiter des Bettenregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, kurz Divi. Hier werden die freien Kapazitäten in Deutschlands Kliniken erfasst - der Spielraum, den die ohnehin extrem belasteten Krankenhäuser noch haben, schrumpft täglich. Derzeit werden in der gesamten Republik 4257 Covid-Patienten auf Intensivstationen betreut, gut 60 Prozent von ihnen müssen beatmet werden. Schon jetzt ein neuer Höchststand, ganz ohne die Lockerungen über die Feiertage.

Was das nebulöse Wort Überlast in der Praxis heißt, wurde am vergangenen Wochenende in Nürnberg deutlich. Dort mussten Intensivpatienten ins Umland verlegt werden, um die Akutversorgung sicherstellen zu können. Derzeit behandeln Nord- und Südklinikum über 170 Covid-Erkrankte - dreimal so viele wie während der ersten Welle. Stand Montag mussten 25 von ihnen beatmet werden, ein Kraftakt für das Personal, das seit Wochen am Anschlag arbeitet. Immer wieder muss für die Betreuung der Intensivbetten der Betrieb auf anderen Stationen massiv eingeschränkt werden. Die besonders schweren Verläufe nehmen zu.

"In Bayern ist man aktuell auf den guten Willen angewiesen"

"Unsere Prognosemodelle zeigen schon jetzt, dass wir ab Mitte Januar eine enorme Belastung bekommen", sagt Christian Karagiannidis vom Divi. "Das wird zum Teil so hart werden, dass es richtig knarzt." Seit Wochen arbeiten Kliniken am Limit - und darüber. In Nürnberg konnte am Wochenende die Akutversorgung nur durch die Solidarität der umliegenden Krankenhäuser aufrecht erhalten werden - sie nahmen Patienten, die aus Nord- und Südklinikum verlegt wurden, auf. Verpflichtet sind sie dazu nicht. "In Bayern ist man aktuell auf den guten Willen anderer Häuser angewiesen", sagt Karagiannidis.

Einen fixes Verteilungssystem wie in Hessen und Berlin, wo Verlegungen im Notfall zentral organisiert werden, gibt es im Freistaat nicht. Der Leiter des Intensivbettenregister plädiert für einen solchen Mechanismus. "Man muss das nicht bayernweit von München machen, aber vielleicht auf der Ebene der Regierungsbezirke."

Christian Karagiannidis ist an der Lungenklinik Köln-Merheim tätig. Er ist wissenschaftlicher Leiter des Divi-Registers. 

Christian Karagiannidis ist an der Lungenklinik Köln-Merheim tätig. Er ist wissenschaftlicher Leiter des Divi-Registers.  © Schmitt, Felix

Deutschlandweit soll das sogenannte "Kleeblatt-Prinzip" die Intensivstationen vor dem Kollaps bewahren. Sind einzelne Regionen überlastet, werden Patienten auch über Bundesländer hinweg verlegt. Dabei bilden drei bis fünf von ihnen eine Planungseinheit, die Ressourcen und Lasten untereinander verteilen - zumindest in der Theorie. "In der Praxis geht das in Deutschland mit Hubschraubern, Rettungsfahrzeugen und sogar der Deutschen Bahn ganz gut", erklärt Karagiannidis. "Aber es braucht das 'Go' und das kommt erst, wenn eine Region total überlastet ist." Die rechtliche Entscheidung liege im föderalistischen System bei den Landesgesundheitsministerien.

"Stabilität ist sehr fragil"

Auch in anderen Krankenhäusern spitzt sich die Lage zu - etwa im Universitätsklinikum Erlangen, einer der größten Kliniken in Franken. Aktuell werden dort, Stand Montag, 97 Patienten mit Covid-19 stationär behandelt, 22 von ihnen liegen derzeit auf der Intensivstation. Innerhalb von vier Wochen haben sich die schweren Verläufe, die in Erlangen behandelt werden müssen, fast vervierfacht. "Alleine diese Steigerungszahlen innerhalb nur eines Monats verdeutlichen die ungeheure Dynamik des aktuellen Infektionsgeschehens", sagt Uniklinikum-Sprecher Johannes Eissing. "Die Lage ist noch stabil, aber jeder bei uns im Haus weiß, dass diese Stabilität sehr fragil ist."

Auch das Fürther Klinikum rutscht immer wieder in die Überlastung. "Wir müssen hin und wieder mehr Patienten aufnehmen als geplant", sagt Manfred Wagner, Direktor für den nicht-operativen Bereich. "Die Situation ist weiter angespannt, aber kontrolliert." In Fürth werden, wie überall in Bayern, derzeit planbare Eingriffe verschoben. "Wir würden aktuell keinen unkomplizierten Leistenbruch oder eine nicht akut entzündete Gallenblase operieren", erklärt Wagner. "Tumorpatienten lassen wir in der Regel aber nicht warten - und wenn, dann wird eine OP nur tagesaktuell verschoben."

Herzinfarkte, Schlaganfälle, Unfälle - und eben Covid

Gut 27.000 Intensivplätze gibt es derzeit in Deutschland, etwas mehr als 20 Prozent sind noch frei. Nicht alle sind sogenannte "High-Care"-Betten, an denen Patienten auch intubiert werden können. Mehr als die Hälfte der Kapazitäten Teil liegt "Low-Care"-Bereich, dort können nur Sauerstoffmasken benutzt werden. "Wenn sie an einer Klinik zehn Prozent frei haben, dann kommt man damit zurecht", erklärt Karagiannidis. "Ab fünf wird es kritisch." Denn: Die Betten werden nicht nur für Covid-Patienten, sondern insbesondere für andere Notfälle gebraucht. Herzinfarkte, Schlaganfälle, Verkehrsunfälle. "Das sind viele Krankheiten, die darauf drängen." Die Lage, sagt der Experte, ist angespannt, die freien Ressourcen knapp.

Dazu kommt: Die Zahl der Intensivbetten schwankt. Nicht alle sind immer belegbar, besonders im Winter, wenn naturgemäß auch viele Pfleger und Ärzte erkranken. Das Divi-Register verzeichnet beim Klinikpersonal seit November steigende Ausfallzahlen und damit weniger Betten. Die Kurve zeigt steil nach oben. In einem Krankenhaus, in dem oft mit engem Kontakt gearbeitet wird, verbreiten sich Infekte zudem schnell - darunter auch das Coronavirus selbst. "Die Covid-Zange" nennt Manfred Wagner vom Fürther Klinikum das. Pfleger infizieren sich, fallen aus - und gleichzeitig sinkt die Versorgungskapazität.

Von den ganz großen Katastrophenszenarien hält Wagner allerdings nichts. "Ich bin nach wie vor der Meinung, dass wir das als Gesundheitssystem in Deutschland hinbekommen", sagt der Mediziner, der nicht damit rechnet, Patienten im Stich lassen zu müssen. Experten sind sich jedoch einig: Über die geplanten Lockerungen zu Weihnachten sollte zumindest noch einmal diskutiert werden. Das Fest darf nicht zu dem Tropfen werden, der das Corona-Fass in Bayerns Kliniken zum Überlaufen bringt.

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