Nach Trennung: Nicht die Kinder, die Eltern fliegen aus

Kindern fällt die Trennung ihrer Eltern weniger schwer, wenn sie wenigstens in ihrem gewohnten Zuhause bleiben dürfen. Nestmodell nennt sich diese Betreuungsvariante, die allerdings voraussetzt, dass die Erwachsenen sich noch verstehen und verständigen können.

© Photocase.de Kindern fällt die Trennung ihrer Eltern weniger schwer, wenn sie wenigstens in ihrem gewohnten Zuhause bleiben dürfen. Nestmodell nennt sich diese Betreuungsvariante, die allerdings voraussetzt, dass die Erwachsenen sich noch verstehen und verständigen können.

Jeden Montag steht Sabine mit gepacktem Koffer vor jenem Haus, in dem sie mit ihrem Mann Michael und den vier Kindern einst als Familie lebte. Im Inneren erwartet sie eine Socke von Michael auf dem Schlafzimmerboden. Auch im Badezimmer sieht es aus wie vor Sabines Auszug von vor zwei Jahren: Ihre Zahnbürste steht neben der ihres Ex-Partners.

Doch sobald Sabine ins Haus kommt, ist Michael längst wieder weg – in seiner Wohnung. Wie Vögel fliegen die Eltern abwechselnd zum Nest, um ihre Kinder zu versorgen. Juristen nennen diese Form der Betreuung deshalb Nestmodell.

Als sich Sabine und Michael nach über zehn Jahren Ehe trennen, sind sie sich einig: Die Kinder sollen sich nicht zwischen Mutter und Vater entscheiden müssen. Der Trennungsberater schlägt das Nestmodell vor. Also setzen die Eltern sich an den Küchentisch und rufen die Kinder zu sich, um ihnen von der Trennung zu erzählen. Und davon, dass sie bald nur noch abwechselnd im Haus sein werden.

"Seitdem war mein Zuhause nicht mehr das meiner Kinder", sagt Sabine. Sie sitzt vor einer großen Tasse Cappuccino in einem Nürnberger Café und nimmt einen Zug von ihrer Zigarette. Um ihre Kinder zu schützen, erzählt sie ihre Geschichte unter einem anderen Namen. Sie spricht über ihre Trennung von Michael und den zwei Jahren danach, in denen Absprachen ihr Leben bestimmten. "Ich habe einfach funktioniert."

Während Michael sich eine Wohnung mietet, fehlt Sabine ein Lebensmittelpunkt. Sie wohnt zeitweise bei Freunden, zieht in WGs ein – und wieder aus. Zwischendurch kommt sie in das Haus, in dem sie mit Michael die Vorhänge ausgesucht hat und legt sich in das gemeinsame Bett, als sei sie nie weggegangen.

"Für Eltern ist es eine Katastrophe", sagt Sabine über die Form der Betreuung. "Das Nestmodell klappt nur bei Paaren, die sich über die Trennung hinaus gut verstehen", erklärt die systemische Paar- und Familientherapeutin Eva-Maria Hesse. Bei dieser Form der Familienberatung wird der Mensch in Wechselwirkung mit seiner Umwelt und im Kontext seiner Bezugspersonen gesehen. "Das Nestmodell schlage ich vor, wenn bei beiden Eltern eine Offenheit, eine Bereitschaft dafür da ist und ich das Gefühl habe, dass sie auf einer respektvollen Ebene miteinander umgehen können", sagt die Nürnbergerin.

Bisher gibt es nur wenig Forschung dazu. So ist unbekannt, wie lange Familien in Deutschland das Nestmodell praktizieren oder wie viele von ihnen dieses Modell gewählt haben. Familiengerichte können es nicht anordnen. Eltern müssen sich gemeinsam dazu entschließen.

Doch weil eine Trennung auch mit Wut, Hass oder Kränkung verbunden sein kann, sei es für viele schwer, sich abzugrenzen. "Die Kinder merken diese Anspannung dann", sagt Familientherapeutin Hesse. Eltern sollten offen über ihre Wünsche und Erwartungen sprechen, rät sie. Denn obwohl Kinder in ihrer gewohnten Umgebung bleiben könnten, verlange es den Eltern viel ab. Sie müssten etwa in das Haus kommen, in dem viel an den Ex-Partner erinnert. "Man riecht vielleicht das Parfum oder Aftershave des Ex-Partners im Bad, was starke Gefühle auslösen kann." Hat jeder seine eigene Wohnung, nimmt der andere weniger Raum ein.

Auch Sabine hat diese Erfahrung gemacht: Trotz Trennung gibt es keine Auszeit vom Ex-Partner. Sie muss Michael sagen, wann er die Tochter zur Kontrolluntersuchung zum Kinderarzt bringen muss, dass der Klavierlehrer des Sohnes krank ist oder ihn bitten, einen Karton Milch zu kaufen.

Für laufende Kosten – zum Beispiel die Miete des Hauses - führen die Eltern ein gemeinsames Konto. Andere Ausgaben schreiben sie auf und teilen sie wie WG-Bewohner. Der Planungsaufwand ist immens.

Nach Trennung: Nicht die Kinder, die Eltern fliegen aus

© Melanie Held/Redaktionsservice

Sabine wird immer mehr zur Getriebenen. Sie fegt die Brotkrümel vom Küchentisch, die Michael vom Abendbrot zurückgelassen hat, und ist in Gedanken schon bei ihrer Arbeit. Zuvor bringt sie die Tochter in die Kita und muss sich darauf verlassen, dass der zehnjährige Sohn das Haus selbstständig verlässt. "Ich kann meine Kinder nicht mehr genießen", sagt Sabine und meint damit, ihnen nur noch selten beim Spielen zuzusehen oder wenig mit ihnen zu kuscheln. "Ich habe meine Familie verloren."

Jeden Montag und Dienstag schläft Sabine im Haus. An den Wochenenden wechselt sie sich mit Michael ab. Zeit als Familie verbringen sie nur noch an den Geburtstagen der Kinder. Oder an Weihnachten. An zwei Heiligabenden war das so. In diesem Jahr soll es anders sein. Sabine ist in eine zentrale Altbauwohnung mit Stuck an der Decke gezogen. Michael hat seine Wohnung aufgegeben und wohnt nun wieder im Haus bei den Kindern.

Weil Sabine einen neuen Partner hat, haben die Eltern das Nestmodell beendet und werden sich scheiden lassen.

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