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18. Dezember 1971: Bleiweißviertel bald als vornehmes Wohngebiet

18.12.2021, 07:00 Uhr
18. Dezember 1971: Bleiweißviertel bald als vornehmes Wohngebiet

© NN

Die Diagnose reizt jedoch namhafte Architekten, Lösungen für das Sanierungsgebiet zwischen Allersberger, Schweigger-, Wilhelm-Spacth-, Holzgarten-, Augusten-, Grenz- und Forsthofstraße auszuknobeln. Bei ihren Überlegungen kommt einer dichten Wohnbebauung, die gehobenen Ansprüchen gerecht wird, die Favoritenrolle zu. Der Fürther Straße gilt das Augenmerk nicht nur wegen der Öde, die sich dort ausbreitet. Ein jedermann sichtbarer Strukturwandel mahnt zur Eile. Ein um das andere Haus aus der Gründerzeit verschwindet von der Bildfläche. Kaum zu glauben, aber leider wahr: bald steht das 50jährige Sanierungsjubiläum vor der Tür des Bleiweißviertels. Schon im Jahre 1925 verschickte die Stadt entsprechende Bescheide mit dem Hinweis, daß von nun an nicht mehr gebaut werden dürfe. Viele Bewohner sind deshalb noch lange nicht davon überzeugt, daß es jetzt ernst wird: auch wenn die Stadt kürzlich 100.000 DM für „vorbereitende Untersuchungen“ bereitstellte und die Aufnahme des Gebiets in das Programm nach dem Städtebauförderungsgesetz beantragte. Schon in diesem Augenblick, bei Beginn des Verfahrens, hakt die Kritik ein, die sich auch der Kreisvorstand des Bundes Deutscher Architekten zu eigen macht. Die Voruntersuchung hätte viel früher beginnen sollen, finden die Fachleute, die außerdem bedauern: „Kein Mensch weiß, was dort geplant ist. Denn die Diskussion zwischen der Stadt und den betroffenen Bürgern über das Ziel der Sanierung läuft nicht, obwohl man dafür kein Geld bräuchte.“

Das Ziel, das sich die Architekten denken könnten, ist ein modernes Wohngebiet, dicht bebaut und bestückt mit Zutaten, die kein Großstadtmensch entbehren möchte: Läden, Kinderspielplätze, Schulen, Wirtshäuser, vielleicht ein kleines Theater. Nach den ersten Vorstellungen sollte der Bürger des neuen Bleiweißviertels in Wohnungen leben, die über dem Niveau des sozialen Wohnungsbaus liegen, und als Fußgänger nicht mehr vom Kraftfahrzeugverkehr behelligt werden. Denn mit der Sanierung, die über die Grenzen des 9,2 Hektar großen und heute von rund 1800 Menschen bewohnten Areals hinaus in die Nachbarschaft hineinstoßen sollte, reden die Architekten einer hochgelegten Fußgängerzone das Wort. Gleichzeitig weisen sie darauf hin, daß bei dieser Gelegenheit die auf lange Sicht unerträgliche Verkehrssituation an der Ecke Allersberger, Schweigger- und Wölckernstraße bereinigt werden könnte. Beim anderen „Sorgenkind“, der Fürther Straße, geht es vordergründig darum, einen Überblick zu gewinnen, Dort stehen noch zahlreiche Häuser aus der Zeit um die Jahrhundertwende, von denen manche erhaltenswert sind. Welche Erfolge mit der Renovierung verbunden sind, haben andere Städte (beispielsweise Berlin) bereits vorgemacht, so daß die Antwort auf die Frage dringend ist: „Welche Häuser sollen erhalten bleiben?“ Obendrein gilt es, den Eindruck des endlos langen Schlauches zu verwischen, der die Menschen eher vertreibt als anzieht, weil sie sich nirgends orientieren können. Die Architekten denken an optische Markierungen etwa in der Höhe der Maximilianstraße und beim Quelle-Kaufhaus. Wie wirkungsvoll solche Abgrenzungen sein können, hat jeder Nürnberger schon in der Landeshauptstadt erlebt, in der die Kilometer messende Distanz zwischen der „Münchner Freiheit“ und der Feldherrnhalle durch das Siegestor unterbrochen und in eigene, im Charakter völlig verschiedene Gebiete gegliedert wird. Auch Paris besitzt Vorbilder, wie eines Tages die Fürther Straße durch eine Aufteilung lebendiger und interessanter werden könnte.

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