Zeitzeuge Abba Naor und der Terror im KZ

25.1.2011, 00:00 Uhr
 Zeitzeuge Abba Naor und der Terror im KZ

© Roland Fengler

Abba Naor war nicht in Auschwitz. Er war „nur“ im Ghetto von Kaunas, in Litauen. In Stutthof, Dachau und Außenlagern wie Kaufering. Der gebürtige Litauer musste mit 13 Jahren erleben, wie seine Landsleute seine Glaubensbrüder und –schwestern ermordeten. Partisanen erschossen sie im Wald oder trieben sie in die Synagogen und zündeten diese an. Das war im Sommer 1941. Ein Jahr zuvor hatte die Sowjetunion sich die baltischen Staaten unter den Nagel gerissen, dann kamen die Deutschen. Als Sündenböcke hielt man sich an die Juden, die angeblich mit den Russen gemeinsame Sache gemacht hätten. Und die litauische Armee? „Für einen Panzer braucht man 101 Mann“, erklärt Abba Naor. „Nämlich einen Fahrer, und hundert, die schieben.“

Abba Naor ist ein beherrschter Mann. Die grausamsten Vorgänge schildert er in einem ruhigen, scheinbar leidenschaftslosen Duktus. Aber die sachliche Fassade zeigt Risse. Einer dieser Risse ist Naors trockener Humor, ein weiterer sein Sinn für groteske Untertreibungen. „Immer wieder ist im Ghetto einer erschossen oder aufgehängt worden“, erläutert er, „aber wenn einer gehängt wird, damit kann man leben.“

Im Ghetto von Kaunas gab es für Naors Familie kaum ein Unterkommen und nichts zu beißen. Sich Lebensmittel von draußen zu besorgen war lebensgefährlich. Also schickte man Kinder los zum Brot besorgen. „Man dachte, denen passiert nichts.“ Ein Irrtum, den 26 Kinder und Jugendliche am ersten Tag mit dem Leben bezahlten. Unter ihnen war Abbas 15-jähriger Bruder.

Rechts oder links – eine Frage von Leben und Tod

Dann kam der Tag, an dem sich alle Juden auf dem „Platz der Demokraten“ versammeln und vor dem Oberkommandierenden vorbeidefilieren mussten. „Der Kommandierende sagte kein Wort“, erzählt Abba Naor, „er zeigte bei jedem nur nach rechts oder nach links. Wir hatten keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte.“

Was das zu bedeuten hatte, macht Naor mit einer Fotokopie aus den Aufzeichnungen des litauischen Statthalters klar. Mit deutscher Gründlichkeit protokolliert dieser, wie viele Menschen er umbringen ließ und dröselt seine Opfer säuberlich auf in Männer, Frauen, Kinder, ordnet akkurat nach Nationen, Glaubensbekenntnis, nach Gesunden und Kranken.

Naor vergisst aber auch die wenigen positiven Ausnahmen nicht. So etwa einige litauische Bauern, die Kinder aufnahmen und behielten – und nicht an die Gestapo auslieferten, wie so viele andere. Oder den deutschen Feldwebel Anton Schmid, der Juden die Flucht ermöglichte, und dies mit dem Leben bezahlte. „In jeder Situation kann ein Mensch ein Mensch bleiben“, kommentiert Abba Naor.

Kameradschaft zwischen Mensch und Schwein

Weitere Deportationen rissen Naors Familie auseinander. Die Mutter und sein kleiner Bruder wurden ermordet. In Dachaus Außenlagern herrschte das Prinzip Vernichtung durch Arbeit. „Jeder Zweite ist gestorben“, erzählt Naor. „Ich nicht. Warum? Drei Punkte musste man beachten. Erstens: Gute Freunde haben. Zweitens: Organisieren. Eine Kartoffel bedeutete einen Tag Leben. Drittens: Aufpassen auf die Aufpasser. Im Lager wurde man nur einmal geschlagen. Ein zweites Mal gab es nicht, man hat das nicht überlebt.“ Unter solchen Umständen schleppte der 15-jährige Abba Zementsäcke. „50 Kilo schwer, im Laufschritt, zwölf Stunden am Tag. Wer hinfiel, war verloren.“ Über die Woche stapelten sich die Leichen an. Wer sie freiwillig wegschaffte, bekam eine Suppe extra.



Eines Tages war Abba mit seinen Kameraden auf einem Bauernhof und sah, wie die Schweine gekochte Kartoffeln fraßen. „Wir und die Schweine hatten das selbe Schicksal, wir waren alle zum Tode verurteilt. Also haben wir Kameradschaft mit den Schweinen geschlossen und ihnen die Kartoffeln stibitzt.“

Ende April 1945 traten die Häftlinge den Todesmarsch durch Bayern an. Neun Tage ohne Nahrung. Wer liegenblieb, bekam die Kugel. Am Morgen des 2. Mai waren die Wachen verschwunden. Vier Stunden später rückten die Amerikaner an.

Naor projiziert zu seinen Erzählungen entsetzliche Fotografien an die Wand des Gemeindesaals der FCL. Dort ragt der Schriftzug „Christus unser Leben“ in die Aufnahmen von Toten und Verhungernden hinein. Wie lebt man da weiter, was ist das für ein Dasein, 66 Jahre nach Kriegsende? „Wir führen ein doppeltes Leben“, erläutert der 83-Jährige. „Eines am Tag, wo wir normal erscheinen, und eines in der Nacht. Man wacht auf – und ist wieder im Lager, auf dem Appellplatz, in der Selektion. Je älter man wird, umso schlimmer wird es.“
 

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