65. Jahrestag der Nürnberger Prozesse

5.10.2011, 08:00 Uhr
65. Jahrestag der Nürnberger Prozesse

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„Aus der Distanz sieht man vieles klarer“, sagt Jeßberger vom Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Juristische Zeitgeschichte der Universität Hamburg.

Der Internationale Militärgerichtshof wurde nur für ein einziges Verfahren eingerichtet, Rechtsmittel konnten nicht eingelegt werden, und er wandte das Strafrecht rückwirkend an. Dies sei aus heutiger Sicht „kein Grund zum Jubeln“. Andererseits setzte er das Recht an die Stelle der Rache und konstatierte die Strafbarkeit des Einzelnen. „Verbrechen werden nicht von Staaten begangen, sondern von Personen“, sagt Jeßberger. Dabei sei es unerheblich, ob der Angeklagte auf Befehl gehandelt habe oder nicht.

Ohne uns Deutsche – nicht als Juristen, sondern als Täter – gebe es heute kein Völkerstrafrecht, betont der Juraprofessor. „Nürnberg ist die wichtigste Station auf dem langen Weg zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag“. Schon nach dem Ersten Weltkrieg habe man versucht, den deutschen Kaiser wegen einer Verletzung des internationalen Sittengesetzes vor Gericht zu stellen. Doch die Niederlande lieferten ihn nicht aus. Auch zeigte die Reichsregierung wenig Interesse daran, deutsche Kriegsverbrecher an die Alliierten zu überstellen. Dafür kam es zu einer „Verliererjustiz“ durch den Reichsgerichtshof. Die Schuldsprüche in den „Leipziger Prozessen“ führten allerdings zu keinen ernsthaften Konsequenzen, so Jeßberger.

Der Kalte Krieg legte die internationale Justiz auf Eis

Die Alliierten des Zweiten Weltkriegs einigten sich in der Moskauer Erklärung von 1943 darauf, deutsche Kriegsverbrecher in den Ländern abzuurteilen, in denen sie ihre Taten begangen haben. Um die Hauptkriegsverbrecher zur Verantwortung zu ziehen, wurde mit dem Londoner Abkommen vom August 1945 ein Internationaler Militärgerichtshof eingesetzt. Diese „dezentrale Strafrechtspflege“ sei aus heutiger Sicht ein moderner Gedanke, betont der Jurist.

Der Kalte Krieg habe die internationale Strafgerichtsbarkeit jedoch auf Eis gelegt. „Zur echten Erfolgsgeschichte wurde Nürnberg erst nach dem Zusammenbruch des Ostblocks.“ Dies gelte auch für die Rechtsprechung der Bundesrepublik. So sei der Straftatbestand des Völkermords, obwohl seit den 1950er Jahren im deutschen Recht verankert, erst nach dem Jugoslawienkrieg angewandt worden. Und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ werden erst seit 2002 geahndet.

Die Nürnberger Prozesse seien hochaktuell, meint der Strafrechtler. Auch nach 65 Jahren seien ihre Prinzipien noch nicht zu Ende gedacht. So wurde zum Beispiel die Judenhetze eines Julius Streicher als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ geahndet; Hans Fritsche, Leiter der Rundfunkabteilung in Goebbels Ministerium, jedoch freigesprochen. „Wie bewertet man z.B. die Rolle der Journalisten in Ruanda, die rassistische Hetze über das Radio verbreitet haben?“, fragt Jeßberger. „Kann Journalismus ein Völkerrechtsverbrechen sein?“

Hochgradig politisches Feld

Auf die Frage eines Zuhörers, wie beispielsweise der Irak-Krieg mit den Prinzipien der Nürnberger Prozesse zu vereinbaren sei, antwortet Jeßberger ausweichend. Die Vereinigten Staaten hätten sie womöglich in letzter Zeit nicht erfüllt. „Natürlich ist das Völkerstrafrecht ein hochgradig politisches Feld, bei dem man sich nicht immer auf juristische Positionen zurückziehen kann“, gibt Jeßberger letztlich zu bedenken.

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