Gegen alles ist ein Kraut gewachsen

20.5.2011, 00:00 Uhr
Gegen alles ist ein Kraut gewachsen

© Birgit Herrnleben

„Das riecht ja wie in Omas Badezimmer!“ meint Alex grinsend, als er langsam ein Blättchen Lavendel zwischen den Fingern zerreibt. Zusammen mit seiner Freundin Christine und einem bunt gemischten Völkchen an Hobbyköchen und Naturfreunden hat er sich in Leonie Bräutigams Zuhause, der historischen Oedmühle eingefunden: Sie alle eint an diesem Frühlingsmorgen eines: die Freude an der erblühten Natur und die Lust am Kochen und Genießen. Sie gehen gern wandern, erzählt eine junge Frau, die zusammen mit ihrer Mutter an der Tour teilnimmt. Doch was die Uroma noch wusste, ist längst in Vergessenheit geraten. Hier wollen sie neu erfahren, dass man Spinat nicht nur aus einem viereckigen Tiefkühlpäckchen, sondern auch aus den jungen, äußerst vitaminreichen Brennnesseln zaubern kann oder dass junge Löwenzahnknospen, in Ölivenöl und Balsamico mariniert, mindestens genauso gut wie Kapernäpfel aus dem Supermarkt schmecken können.

Pestwurz gegen Migräne

Keine zehn Meter vom Haus entfernt, wächst am Saum eines Baches prächtige Uferflora, groß sind die Blätter, erinnern fast ein wenig an Rhabarber. „Beißen Sie rein!“ fordert Leonie Bräutigam die Wanderer auf und klärt gleich auf, dass das nach Gurken schmeckende Grün der „Pestwurz“ ist, dessen Extrakt Migräneattacken vorbeugen soll.

Die kleinsten Kräuter sind auch die leckersten, sagt Leonie Bräutigam, die viel Wissenswertes über den Vitamin- und Nährstoffgehalt der Kräuter zu erzählen weiß. Möglichst groß und zart sollen im heutigen Industriezeitalter die Kulturpflanzen sein, denke man nur an einen Kopfsalat. Und auch die Geschmacksnerven der Verbraucher haben sich an den zarten, teilweise wässrigen Geschmack gewöhnt. Wertvolle, für den Organismus so nötige Bitterstoffe fehlen heute vollständig. Und so sind es anfangs für den Gaumen unbekannte, ja strenge Geschmäcker, die sich beim herzhaften Biss in ein Löwenzahnblatt im Mund entfalten.

Honigsüß dagegen die gelben und rosa Blüten der Taub- und Buntnesseln, die sich zusammen mit den klitzekleinen Blättchen auch perfekt als Deko auf dem Teller machen. Denn auch in der Kräuterküche isst das Auge mit!

Steil bergan geht der Weg, und mit jedem Schritt und Tritt entdeckt und erschmeckt der Wanderer im lichten Mischwald Neues. Etwa dass junge Buchenblätter nicht nur durchaus schmackhaft sind, sondern nebenbei auch ziemlich viel Vitamin C enthalten und Sauerklee noch erfrischender als Sauerampfer schmeckt.

Wie gemalt liegt die Frühlingswiese vor dem Wanderer, unzählige Blumen, gelb, lila und blau wiegen sich als bunte Farbtupfer im kniehohen Gras. Alle sechs Wochen ändert sich die Vegetation einer Wiese, erzählt die Kräuterfrau, im Jahreszyklus bringt dieselbe Wiese also immer andere Blüten und Pflanzen hervor und gibt auch wertvolle Tipps: Nicht die Kräuter mit Stumpf und Stiel ausreißen oder nicht direkt am Straßenrand und Feldsaum sammeln.

Mit viel Bedacht, wie Hobbyforscher, haben die Wanderer den Blick auf den Boden gewandt, spüren wilden Frauenmantel und Schachtelhalm („strafft die Gefäße“), Walderdbeerblüten und Sauerampfer auf. Und auch so unbekannte Kräuter wie der Gundermann mit seinen kleinen blauen Blüten, das Wiesenlabkraut und die Wicken wollen entdeckt werden. Schon Hildegard von Bingen wusste um die Heilkraft des Gundermanns und empfahl, immer Salbei, Gundermann und Ringelblume im Haus zu haben.

Schnell sind die mitgebrachten Körbchen („Plastiktüten sind uncool!“) voll mit Spitzwegerich („hilft auch gegen Insektenstiche“) und bunten Nesseln. Und immer heißt es riechen und schmecken. Die Schafgarbe, so Leonie Bräutigam, riecht nicht nur ein wenig nach Banane, sondern fördert auch die Wundheilung. Im Volksmund, so die Kräuterführerin, wurde das Kraut auch wegen seines hohen Vitamingehalts „Soldatenpetersilie” genannt.

Löwenzahnblätter, Brennnesseln, Knoblauchrauke, Gänseblümchen und junge Walderdbeerblätter wandern in die Kräuterkörbchen. Und auch das bei Gartenbesitzern so verhasste Un-Kraut Giersch wird in der Kräuterküche zur Delikatesse und wandert wenig später in den Kochtopf und auf den Tisch der Oedmühle: Beim gemeinsamen Schnippeln, Pürieren, Aufschäumen und Brutzeln wird gefachsimpelt: Da schwärmt der aus Regensburg angereiste Student und Hobbykoch den anderen Köchen von einer „Geschmacksexplosion“ vor, tauche man Estragon in dunkle Konfitüre oder Minzeblättchen in dunkle Schokolade.

Und beim anschließenden Wildkräuter-Menü mit einer erfrischenden Kräuterstrauß-Limonade, Frühlingssuppe „Grüne Neune“, herzhafter Brennnessel-Quiche und einem kühlen Sauerampfer-Gundermann-Sorbet (siehe Rezept) sind sich alle Teilnehmer einig: Das kann man essen! Und zwar sehr gut.