Lese-Tipps im April: Der Leipziger Buchpreis

31.3.2011, 18:35 Uhr
Lese-Tipps im April: Der Leipziger Buchpreis

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Mit Clemens Setz hat eindeutig ein Außenseiter das Rennen im Bereich Belletristik gemacht. Keiner hat wohl ernsthaft mit dem jungen Autor (28 Jahre) gerechnet. Als Favoriten wurden eher Namen wie Arno Geiger (Der alte König in seinem Exil) oder Wolfgang Herrndorf (Tschick) gehandelt. 

In der Kategorie Sachbuch hat die Jury in Leipzig den Preis an Henning Ritter verliehen. Seine "Notizhefte" sind in den vergangenen 25 Jahren entstanden und stehen in einer langen literarischen Tradition, und eine Reihe großer Denker wie Montesquieu oder Nietzsche hinterlassen in den Aufzeichnungen ihre Spur. 

Hier also die Nominierungen der Leipziger Buchpreisverleihung in den Kategorien Belletristik und Sachbuch:

Lese-Tipps im April: Der Leipziger Buchpreis

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Kream Korner

Anna Katharina Fröhlich
170 Seiten
Berlin Verlag
ISBN: 9783827009630
Preis: 19,90 €

„Welcher Mann aber könnte mich am Abend noch unterhalten, wenn ich den Nachmittag mit Herodot zugebracht habe?“, fragt sich die junge Frau bei der Durchsicht von Heiratsannoncen, nur um sich dann nach dem Vorbild ihrer kühnen Tante noch hingebungsvoller in die Lektüre der Weltliteratur und die tägliche Gartenarbeit zu stürzen. Kein Prinz erlöst sie von dem abgeschiedenen Leben auf dem Gut in Südfrankreich, wohl aber die Einladung nach Indien zu Freunden der Tante, einem märchenhaft reichen Sikh-Clan. In einer herzerfrischend uncoolen Sprache erzählt Anna Katharina Fröhlich von der Suche nach dem Glück. Der beharrliche Enthusiasmus, mit dem die beiden Hauptfiguren sich über die Banalität des Realen hinaus schwingen, ist schlichtweg hinreißend und lässt uns die Welt nach dieser Lektüre ein wenig glanzvoller erscheinen. 

 "Ausgezeichnete" Literatur aus Leipzig zu gewinnen

Der alte König in seinem Exil

Arno Geiger
192 Seiten
Hanser Verlag
ISBN: 9783446236349
Preis: 17,90 €

Wenn einer nicht mehr denken kann wie früher, was ist das für ein Leben? Arno Geigers Vater hat Alzheimer. Die Krankheit löst langsam seine Erinnerung und seine Orientierung in der Gegenwart auf, lässt sein Leben abhandenkommen. Arno Geiger erzählt, wie er nochmals Freundschaft mit seinem Vater schließt und ihn viele Jahre begleitet. In nur scheinbar sinnlosen und oft so wunderbar poetischen Sätzen entdeckt er, dass es auch im Alter in der Person des Vaters noch alles gibt: Charme, Witz, Selbstbewusstsein und Würde. Arno Geigers Buch ist lebendig, oft komisch. In seiner tief berührenden Geschichte erzählt er von einem Leben, das es immer noch zutiefst wert ist, gelebt zu werden.

 

"Arno Geiger bewegt sich mit seinem Buch manchmal hart an der Grenze zur Verklärung des Vaters. Aber er kriegt die Kurve - die Dramatik und Tragödie des Alzheimer-Kranken fällt nie unter den Tisch."
Birgit Nüchterlein, NN-Feuilleton

"Ausgezeichnete" Literatur aus Leipzig zu gewinnen

Lese-Tipps im April: Der Leipziger Buchpreis

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Tschick

Wolfgang Herrndorf
253 Seiten
Rohwolt Verlag
ISBN: 9783871347108
Preis: 16,95 €

Mutter in der Entzugsklinik, Vater mit Assistentin auf Geschäftsreise: Maik Klingenberg wird die großen Ferien allein am Pool der elterlichen Villa verbringen. Doch dann kreuzt Tschick auf. Tschick, eigentlich Andrej Tschichatschow, kommt aus einem der Assi-Hochhäuser in Hellersdorf, hat es von der Förderschule irgendwie bis aufs Gymnasium geschafft und wirkt doch nicht gerade wie das Musterbeispiel der Integration. Außerdem hat er einen geklauten Wagen zur Hand. Und damit beginnt eine Reise ohne Karte und Kompass durch die sommerglühende deutsche Provinz, unvergesslich wie die Flussfahrt von Tom Sawyer und Huck Finn.

 

"Dem schwerkranken Herrndorf, der in Nürnberg Malerei studierte, hätten viele den Preis gegönnt. In Leipzig wurde er vom Puplikum auch zum Favoriten gewählt. Der Clemens-Brentano-Förderpreis für Literatur der Stadt Heidelberg ist ihm mit seinem jugendlich-frischen, aufwühlenden Roman jedoch sicher. Den bekommt er im Juli überreicht."
Norbert Goldhammer, nordbayern.de

 "Ausgezeichnete" Literatur aus Leipzig zu gewinnen

  

Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes

Gewinner in der Kategorie Belletristik

Clemens J. Setz
350 Seiten
Suhrkamp Verlag
ISBN: 9783518422212
Preis: 19,90 €

Eines Tages ist es da. Steht am Ende einer Sackgasse mitten in der Stadt. Es ist ein großes Kind. Den Blick hält es demütig zu Boden gesenkt, seine Haut ist rissig. Tagsüber versammeln sich die Bewohner der Stadt um dieses Kind, veranstalten Kundgebungen und Konzerte. Nachts schlagen sie auf es ein, mit Fäusten, Stöcken und Ketten – auf die Skulptur aus weichem, niemals trocknendem Lehm, auf das Mahlstädter Kind. Der Künstler hat es ihnen zur Vollendung überlassen, hat ihnen die Aufgabe übertragen, es »in die allgemein als vollkommen empfundene Form eines Kindes zu bringen«. Zuerst treibt die Kunstbegeisterung die Bewohner der Stadt, dann kommen sie als Pilger ihrer Wut, verlieren prügelnd die Kontrolle über sich und beinahe auch ihren Verstand.

 

"Clemens Setz hat in seinem Buch 18 Erzählungen zusammengefasst. Es sind absurde Szenen, sehr dicht, genau und feinfühlig. Hervorragend geeignet, um junge Menschen und deren Welt 'kennenzulernen'."
Gitta Goltape, Hugendubel

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Seerücken

Peter Stamm
190 Seiten
S. Fischer Verlag
Preis: 18,95 €

Peter Stamm erzählt ungeheuer kunstvoll und scheinbar so einfach von Leben, die nicht gelebt, die aufgeschoben, erinnert und schliesslich verpasst werden. In lakonischen Sätzen und unauffällig stimmungsvollen Szenen findet er – leicht lesbar, aber schwer verdaulich – die kaum spürbaren Eruptionen, die sich im Rückblick als Erdbeben erweisen. Die Einsamkeit im gemeinsamen Urlaub. Ein verlassenes Hotel in den Bergen. Ein Mädchen im Wald. Ein Pfarrer, der die Vögel füttert. Die erste Liebe mit Gewicht.

Die Panikmacher

Patrick Bahners
320 Seiten
C.H.Beck
ISBN: 9783406616457
Preis: 19,95 €

Ayaan Hirsi Ali, Necla Kelek, Alice Schwarzer, Henryk M. Broder, Thilo Sarrazin, Ralph Giordano gehören zu den lautesten Beschwörern einer angeblichen Bedrohung, die von den in Deutschland lebenden Muslimen ausgeht. Doch sind ihre Argumente überhaupt empirisch belegt und schlüssig? Stehen ihre pauschalisierenden Angriffe auf eine andere Religion im Einklang mit dem Ideal einer liberalen und toleranten Gesellschaft, auf deren Verteidigung sich die gleichen Kritiker berufen? Und worauf genau wollen sie eigentlich hinaus? Patrick Bahners, Feuilletonchef der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", verharmlost nicht die Herausforderungen der Integration, aber er korrigiert die falschen Behauptungen der Islamkritik und zeigt, wie sich unter dem Deckmantel der Geistesfreiheit in Wahrheit zunehmend eine Kultur der Intoleranz ausbreitet.

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Gott und die Krokodile

Andrea Böhm
272 Seiten
Pantheon Verlag
ISBN: 9783570551257
Preis: 14,99 €

Andrea Böhm nimmt den Leser mit auf eine Entdeckungsreise durch den Kongo. Sie führt uns in die chaotische, vibrierende Hauptstadt Kinshasa. Sie folgt den Spuren eines afro-amerikanischen Missionars, der in den 1890er Jahren im Königreich der Kuba im Dschungel lebte, und begegnet mysteriösen Mayi-Mayi-Rebellen, die sich für unverwundbar halten. Sie begibt sich in die größten Diamantenfelder der Welt und in die zerrütteten Kivu-Provinzen im Osten des Landes, dem Schauplatz von "Afrikas erstem Weltkrieg". Vor allem aber erzählt Andrea Böhm die Geschichten der Menschen, die ihr begegnen: Marktfrauen, die sich als Boxerinnen ein Zubrot verdienen; Musiker, die ihr Heil in Gott und Beethoven suchen; ein Kindersoldat, der mit seiner Mutter wieder vereint wird; Bergarbeiter, die mit bloßen Händen nach Bodenschätzen graben. Sie alle werden im täglichen Ausnahmezustand zu Meistern der Improvisation.

"Ausgezeichnete" Literatur aus Leipzig zu gewinnen

Anständig essen

Karen Duve
335 Seiten
Galiani Verlag
ISBN: 9783869710280
Preis: 19,95 €

Irgendwann wollte Karen Duve es wissen: Jeweils zwei Monate lang testet sie Ernährungsweisen mit moralischem Anspruch: Biologisch-organisch, vegetarisch, vegan und am Ende sogar frutarisch, also nur das, was die Pflanze freiwillig spendet. Parallel dazu setzt sie sich mit der dahinterstehenden Weltsicht auseinander - und liefert sich mit ihrem Freund, "Jiminy Grille", unausweichliche Verbalduelle. Erst kurz vor der Veröffentlichung ihres Buches wird sie eine Lebensentscheidung treffen - die, wie sie sich weiterernähren und weiter leben will. Schonungslos und mit der ihr eigenen knochentrockenen Komik setzt sie sich jenseits aller Ideologien mit der Frage auseinander: Wie viel gönne ich mir auf Kosten anderer?


"Achtung! Dieses Buch könnte Ihr Leben als Franke radikal ändern."
Norbert Goldhammer, nordbayern.de

Lese-Tipps im April: Der Leipziger Buchpreis

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Verlernen

Marie Luise Knott
151 Seiten
Matthes&Seitz Verlag
ISBN: 9783882216059
Preis: 19,90 €

"Ich rühre nie wieder eine intellektuelle Geschichte an!" 1933, den Bankrott des Denkens und der Urteilskraft vor Augen, verließ Hannah Arendt, die Schülerin von Martin Heidegger und Karl Jaspers, ihre Heimat, die Philosophie und Deutschland. Um in den Besitz einer eigenen Sprache für das Gesehene und Gehörte, Geschehene und Getane zu gelangen, begann sie im Exil ihre Wege des Verlernens , die sie später ihre lebenslange Verstehensarbeit nannte. Marie Luise Knott skizziert Erkenntniswege, mit deren Hilfe sich Hannah Arendt, die Theoretikerin der Freiheit, kollektive "Lebenslügen" und vorgefasste Meinungen austreibt, die am Denken hindern. Die Kraft der Bilder und der Begriffe machen den Denkraum Hannah Arendts zu einem verlässlichen Ort, in dem der Leser seine eigene denkerische Ratlosigkeit aufgehoben weiß und sich selbst in "wesentliche gedankliche Prozesse" verwickeln kann. "Verlernen" ist mehr als ein Buch über das Nachleben dieser Ausnahmedenkerin. Arendts Wege des Verlernens erweisen sich als Anstöße zu politischem Handeln und Urteilen.


"Marie Luise Knott erschließt das Denken Hannah Arendts einfühlsam, unaufgeregt und eindringlich. So erscheinen Lachen, Übersetzen, Verzeihen und Dramatisieren als Techniken um Freiheit zu gewinnen."
Jury des Leipziger Buchpreises

Notizhefte

Gewinner in der Kategorie Sachbuch/Essayistik

Henning Ritter
400 Seiten
Berlin Verlag
ISBN: 3827009588
Preis: 32,00 €

Die Lieblingsepoche des Autors ist fraglos das 18. Jahrhundert der Rousseau und Montesquieu, gerade wegen der Geständnisfreude, mit der es seine Leidenschaften bekennt. Vor allem aber interessiert ihn die geistige Konkurrenz zwischen den Epochen und Traditionen, das Unerledigte der Vergangenheit, ihre Lektionen; und die Gegenwart, als zuletzt kommende, wird um ihre scheinbare Überlegenheit gebracht, alle Perioden erhalten die gleiche Chance. Und so entsteht ein Gespräch zwischen den unabhängigsten Köpfen von der Aufklärung bis heute, von Montaigne bis Nietzsche und Darwin, von Büchner bis Canetti, Jünger und vielen anderen - ein Füllhorn voller immer wieder überraschender Lesefrüchte, Entwürfe, Maximen und Reflexionen; mit wiederkehrenden Motiven und Themen, wie etwa (unter dem Stichwort "Deutsche Dinge") die beständigen Eigenarten der Deutschen, die Rolle von Mitleid und Erinnerung in der heutigen Gesellschaft oder die Konkurrenz von Politik und Kultur in der deutschen Geschichte. 

 

"Eigentlich wollte er seine 'Notizen' nie veröffentlichen, sagt der Autor. Aber seine Freunde waren da anderer Meinung. Sein Buch ist voll von Aphorismen, die einem zum Nachdenken, Reflektieren und Wiederlesen bringen."
Gitta Goltape, Hugendubel

"Ausgezeichnete" Literatur aus Leipzig zu gewinnen

 

 

Nicht aufgeführt sind in unseren Lese-Tipps die fünf Nominierungen in der Kategorie Übersetzung. Wir wollen die Leistungen in dieser Ketegorie nicht schmälern, haben aber auf eine Auflistung verzichtet, um den Rahmen unserer Lese-Tipps nicht zu sprengen. In der Kategorie Übersetzung wurde Barbara Conrad für ihre Neuübertragung des Romans „Krieg und Frieden“ von Lew Tolstoi aus dem Russischen (Carl Hanser Verlag) ausgezeichnet.

Haben Sie ein Lieblingsbuch, das Sie uns empfehlen wollen? Schicken Sie uns Ihren Tipp mit einer kurzen persönlichen Kritik einfach per Mail an redaktion@nordbayern.de. In den nächsten Monaten veröffentlichen wir einen Leser-Tipp mit Ihren ganz persönlichen Lieblingsautoren. Wir freuen uns jetzt schon auf Ihre Vorschläge.

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