Chios und die Tränen der Pistazie

25.8.2018, 08:00 Uhr
Die Bäuerinnen auf Chios säubern das Pistazien-Harz in Handarbeit.

© Sven Rahn Die Bäuerinnen auf Chios säubern das Pistazien-Harz in Handarbeit.

Mesta, früh am Morgen. Mit einem scharfen Messer ritzt Vassilis Ballas vorsichtig eine kleine Kerbe in den Stamm der Pistazie: "Nur fünf Millimeter tief, damit der Baum keinen Schaden nimmt". Eine Handbreit weiter links setzt er erneut an, dann ein beherzter Schnitt etwas darüber. Nach einer guten Stunde hat er mehrere Bäume bearbeitet und die Kreideschicht, die er vor Tagen um die Stämme gestreut hat, erneuert. "In ein paar Wochen kommen wir wieder." Denn dann hat der Baum zum Schließen der Wunde Harz gebildet: Mastix!

"Es fehlte an Lebensqualität"

Vassilis und seine Frau Roula sind vor elf Jahren aus Athen in das mittelalterliche Mesta auf der Insel Chios zurückgekehrt. Die Siedlung ist eines von 20 Mastichochoria, also Dörfern, die ihren Reichtum dem Mastixanbau verdankten. Als Grafikdesigner hat der 43-Jährige in der griechischen Hauptstadt zwar ordentlich Geld verdient, "aber es fehlte uns an Lebensqualität". So wurden die Wohnung in der Stadt verkauft und von dem Geld der Pistazienhain des Großvaters aufgestockt. "Seitdem lebt die jahrhundertealte Tradition unserer Vorfahren wieder auf."

Denn das gummiartige Harz der Pistazienbäume wird seit dem Altertum in Chios angebaut und in alle Welt exportiert. Ägypter verwendeten es zum Einbalsamieren ihrer Mumien, der griechische Arzt Dioskurides lobte die heilende Wirkung bei Magenverstimmungen oder Schnittverletzungen, die von wissenschaftlicher Seite längst bestätigt ist. Und arabische Scheichs und osmanische Sultane nutzten die Tränen der Pistazie zum Räuchern ihrer Paläste und Harems oder zum Würzen ihrer Speisen. Heute steckt es in Nahrungsmitteln, Naturkosmetik oder Geigenlack und dient Maskenbildnern als Kleber.

Ein Rätsel als Glücksfall

Auf Chios gibt es 2,5 Millionen Pistazienbäume, die jährlich bis zu 150 Tonnen Mastix liefern. "Ein weltweit einmaliges Produkt", erklärt Vassilis Ballas stolz: Nur im Süden der Insel sei Bodenfruchtbarkeit, Mikroklima und Niederschlagsmenge derart, dass der Baum das wertvolle Harz erzeugt. Alle Versuche, die Pistazienvarietät an anderer Stelle zu verpflanzen und dort die Produktion von Mastix zu starten, schlugen fehl. "Warum, können auch die Wissenschaftler nicht endgültig erklären."

Für die Insel in der Nordägäis, keine zehn Kilometer von der türkischen Küste entfernt, ist dieses botanische Rätsel ein Glücksfall, brachte es ihren Bewohnern doch Reichtum und Wohlstand.

Pyrgi ist für Architektin Ana Benetto das schönste Dorf der Insel: 750 Einwohner und seit 2011 Unesco-Weltkulturerbe. "Es gibt hier noch 500 traditionelle Sgraffito-Häuser." So bezeichnet man eine Dekorationstechnik, bei der verschiedene Putzschichten aufgetragen und dann durch Kratzen freigelegt werden. "Herauskommen wunderschöne, meist geometrische Formen an den Fassaden." Auch die Struktur des mittelalterlichen Wehrdorfs ist noch zu erkennen: Die Randhäuser stehen dicht aneinander, ohne Türen oder Fenster an der Außenseite. Eine gewölbeförmige Kuppel über den engen Gassen verbindet einzelne Häusergruppen. "Bei Gefahr gelangten die Bewohner über die Dächer in den Verteidigungsturm in der Mitte des Dorfes."

Frische Farben

Die alten Gemäuer zu bewahren, hat sich Benetto, deren Eltern in Pyrgi geboren wurden, zur Lebensaufgabe gemacht. Nach modernen Vorstellungen ist so ein Haus alles andere als komfortabel: "Die Räume sind klein, Fenster gab es früher keine, Luft und Licht drangen allein durch ein Atrium im zweiten Stock in das Wohnzimmer". Aber nur wenn die Menschen die Häuser auch bewohnen, können sie langfristig erhalten werden. Also hilft die blonde junge Frau beim Umbau, lässt Wände durchbrechen und Fenster in den Stein schlagen und sorgt mit frischer Farbgebung für ein luftiges, geräumiges Ambiente.

Auch das Haus von Vaso Kapetaniou hat Ana modernisiert. Die Familie der Mastixbäuerin lebt seit Jahrhunderten in Pyrgi. Gemeinsam mit ihrem Mann bewirtschaftet die 58-Jährige mehrere Plantagen in der Umgebung, ein Nachbar hilft dabei. Rund 1500 Bäume sind im Familienbesitz. "Die meisten zwischen 20 und 50 Jahre alt, also in ihrer produktivsten Zeit." 160 bis 180 Kilo des kostbaren Harzes erntet die Familie Jahr für Jahr. Schwere Handarbeit noch immer: Nachdem das Harz vom Boden gesammelt und vom Stamm gekratzt wurde, muss es mit feinem Finger von Blattresten, Erdklumpen oder angeklebten Insekten befreit werden, dann wird es gewaschen und sortiert.

"Von September bis in den Februar hinein sitzen wir am Küchentisch und putzen", erzählt Vaso, "manchmal zwölf Stunden am Tag". Oft sieht man im Herbst und Winter in Pyrgi Gruppen von meist älteren Frauen, die auf der Straße oder an einem Platz gemeinsam die Jahresernte säubern. Dann erfüllt der frische Duft des Harzes die Gassen des Dorfes.

Verkauft wird die gesamte Ernte der rund 2000 Mastix-Bauern auf Chios an die Mastixkooperative – je nach Reinheit der kleinen, gelblich glänzenden Steine für 68 bis 80 Euro das Kilo. Geschäfte, die an der Vereinigung vorbei laufen, sind illegal – so steht es in einem vom Athener Parlament beschlossenen Gesetz, das im Europa des freien Handels wohl einmalig ist.

Ein schönes Zubrot, aber nicht mehr

Die Gründung der Genossenschaft 1965, an der ihr Vater beteiligt war, habe den illegalen Handel und den Preisverfall gestoppt, erklärt Vaso. "Die Erlöse aus dem Mastixanbau sind heute ein schönes Zubrot für die karge Rente in Griechenland". Reich werde man damit aber nicht. Zwar ist Mastix wieder ein begehrtes Trendprodukt: Die Pharma- und Kosmetikindustrie reißen sich um den Rohstoff. In den Athener In-Bars wird Ouzo mit Mastix-Aroma angeboten, Cafés servieren griechischen Mokka mit Mastix und in den Gourmetrestaurants erhalten Saganaki oder Feta-Soufflé durch das Harz eine erfrischende, minzartige Note. Doch den Rahm schöpfen nicht die Produzenten ab, sondern diejenigen, die den Rohstoff weiterverarbeiten.

Damit auch die Bauern mehr von den Tränen der Pistazien profitieren, will das Tourismus-Department von Chios den Fremdenverkehr auf der Insel ankurbeln: "Mastix soll Tourismusprodukt werden", erklärt Maria Tsilimis. So, wie der Trüffel im Piemont oder der Wein in Bordeaux Genussreisende in die Region locken, könne auch das Harz Urlauber nach Chios holen.

Weitere Informationen:

Tourismus-Department Chios

www.chios.gr/en,

das diese Reise unterstützt hat.

www.masticulture.com

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