Der ständige Zwang zur „bella figura“

19.10.2012, 14:23 Uhr

Vielleicht li unisce (verbindet sie) die Hochschätzung für die Familie, obwohl auch in Italia die Scheidungen ständig zunehmen? Ich wäre fast versucht zu sagen, dass mindestens das Ritual der paste am Sonntag dieses Land noch zusammenhält. Das Wort hat in diesem Fall nichts mit Nudeln zu tun, sondern bezeichnet süßes Kleingebäck. Ob mit Creme oder Schokolade gefüllt, mit Obst und Gelee garniert, ob als rechteckige oder quadratische Kuchenschnitte – oder in der Mignon-Version, die besser zur Krisenzeit und zur Diät passt: Das Mittagsessen mit der ganzen Familie am Sonntag, inklusive Großeltern oder oft auch bei ihnen, wird von einer reichlichen Auswahl an paste gekrönt.

Von Nord bis Süd prägt dieser Brauch den Verlauf des Festtages auf der ganzen Halbinsel, vor allem im Herbst, wenn es für die von der Sonne verwöhnten Italiener zu kalt ist, um ans Meer zu fahren oder ein Picknick im Freien zu machen. Am Sonntagmittag gehen die Väter mit den Kindern zur Konditorei um die Ecke, um den obligatorischen Nachtisch zu kaufen. Können die italienischen Frauen keine Kuchen backen oder haben sie keine Lust dazu? Oder verschafft ihnen der Erwerb der paste in der Konditorei, mit der sie sowieso nur schwer konkurrieren könnten, die Möglichkeit, sich wertvolle Zeit in der Küche zu sparen, um das Mittagessen ungestörter zuzubereiten? Conoscono bene i loro polli (Sie kennen ihre Pappenheimer – wortwörtlich: ihre Hühner – gut) und wissen, dass keiner der Verlockung des süßen Duftes aus der Konditorei widerstehen kann.

Dulcis in fundo

Aber nicht nur reichliche pasticciotti (typisches Süßgebäck aus Lecce) oder pralinengroße Mignon verbinden die Italiener am ganzen Stiefel miteinander – zumindest einmal in der Woche. Derzeit verbindet und beschäftigt die meisten Italiener – und zwar täglich – das Bedürfnis, di voltare pagina (ein neues Kapitel anzufangen; wortwörtlich: die Seite umzublättern): Basta mit Regionen sowohl im Norden als auch im Süden, die von korrupten Abgeordneten regiert werden. Basta mit Hauptstädten, deren Verstrickungen mit der Mafia aufgelöst werden müssen. Basta mit Ratsmitgliedern und Schatzmeistern, die ihnen anvertraute Gelder privat verschwenden – nach dem üblichem Schema, dass il denaro di tutti è il denaro di nessuno (gemeinsames Geld niemandes Geld ist). Non se ne può proprio più (Man kann es nicht mehr ertragen)!

Der goldene, noch sehr warme italienische Herbst sollte zu einem Frühling der moralischen Erneuerung werden, sonst werden meine Landsleute das Vertrauen in die Parteien und in die Politik ganz verlieren – das Ausmaß ihres Versagens wird jeden Tag deutlicher. Ein demokratischer Staat braucht eine gesunde Politik, aber die italienische Politik è proprio andata a fondo (ist wirklich untergegangen). Vielleicht sollten meine Landsleute noch amtierenden, aber schon längst beschuldigten Politikern noch eine letzte pasta am Sonntag gönnen, danach aber ist Schluss mit ihnen: dulcis in fundo (das Beste zum Schluss; wortwörtlich: das Süße zum Schluss).

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