Die Nacht der Unerbittlichkeit

4.3.2011, 19:57 Uhr

In höchster Empörung, das ist heute noch so, bemühen die Deutschen gern Nazi-Vergleiche. In der NZ vom März 1981 ist das täglich nachzulesen. Eine zweite „Kristallnacht“ sei über Nürnberg gekommen, zur Einschüchterung der demokratischen Jugend, beklagt ein Vater vor Journalisten. Darauf entgegnet einer von unzähligen Leserbriefschreibern: Im Gegenteil, der Zug der jungen „Chaoten“ sei den Innenstadtbewohnern „vorgekommen wie damals, als die braunen Rowdys ihr grauenvolles Werk trieben“. Der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß vergleicht kurz darauf die Hausbesetzer in der Bundesrepublik mit Schlägertrupps der SA und SS in der späten Weimarer Zeit. Im Monate währenden öffentlichen Streit über die Nürnberger Massenverhaftungen scheinen alle verbalen Waffen recht zu sein.

Was geschah vor 30 Jahren? Zunächst nur ein Filmabend. Er führt im alternativen Kulturzentrum Komm in der Nacht vom 5. auf den 6. März 1981 zu einem historischen Ereignis, das den Namen des Hauses am Königstor bis ins Ausland bekannt macht. Die Berichtslage gibt Folgendes her: Ab 22 Uhr ziehen etwa 150 Komm-Gäste, nachdem sie eine Dokumentation über niederländische Hausbesetzer angesehen haben, spontan durch die Innenstadt. Zuerst bedrängen sie zwei vor der Tür wartende Kripo-Männer in ihrem Auto. Einzelne Teilnehmer des Zugs werfen in der Fußgängerzone Farbbeutel und Steine in sechs Schaufensterscheiben und demolieren Zeitungsständer. Dicht folgen Polizeiautos der Menge. Die gegen die Wohnungsnot aufbegehrende Hausbesetzerszene in Nürnberg ist als überschaubar und wenig rebellisch bekannt, doch die Polizisten fühlen sich von ihr seit Monaten gereizt. Der laute Pulk kehrt gegen 23 Uhr ins Komm zurück – da riegeln die Beamten jäh das Gebäude ab. Die Pressefotos zeigen sie mit Helmen und Schilden gerüstet.

Viereinhalb Stunden später treten die Festgehaltenen nach Verhandlungen ins Freie, und die Polizisten transportieren 164 von ihnen in Arrestzellen ab. Für 141 Betroffene stellen die Ermittlungsrichter am nächsten Tag gleichlautende, kopierte Haftbefehle wegen Flucht- und Verdunkelungsgefahr nach Landfriedensbruch aus. Die Verhafteten sind zwischen 15 und 52 Jahren alt. 21 sind minderjährig, weitere 54 unter 21 Jahre. Manche Eltern werden jedoch vier Tage lang nicht benachrichtigt. Und das Pikante: Schätzungsweise 70 Festgesetzte nahmen gar nicht an der Demonstration teil, sondern hielten sich zufällig im Komm auf, etwa beim Billard.

Darunter sind Kinder von Pfarrern, Richtern, Politikern. Bis zu zwei Wochen sitzen alle 141 in verschiedenen bayerischen Gefängnissen. Ein juristischer Grund dafür fehlt. Seit 1970 verbietet das Strafrecht bei Randale von Demonstranten Sippenhaft; die Ordnungshüter müssen die Einzeltaten nachweisen. Die Steinewerfer lassen sich nicht mehr ermitteln, sind vielleicht noch nachts durchs Hinterhaus entwischt. Dennoch wird die Staatsanwaltschaft am Landgericht Nürnberg/Fürth im Juli 1981 Anklage gegen 66 Beteiligte erheben. Was in einem Debakel endet.

Sofort nach dem 5. März bricht Protest aus, der die ganze Bundespolitik aufheizt. Die „Fließbandverhaftung“ („Die Zeit“) gibt der einen Hälfte der Bürgerschaft Anlass, im 1973 gegründeten, missliebig linken Komm den „neuen Kern der terroristischen Bewegung“ (Strauß) zu sehen. Die anderen wittern einen neuen Nazismus. Sie sehen hinter der Aktion einen Polizeistaat gegen unliebsame jugendliche Meinungsfreiheit, zumindest einen „Exzess“ (SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt) und „blanken Irrsinn mit Methode“ (SPD-Bundestagsmitglied Renate Schmidt). Auch renommierte Juristen kritisieren brachiale Unverhältnismäßigkeit.

Die Rechtsanwälte der Nürnberger Eltern zeigen die Haftrichter wegen Rechtsbeugung an, ohne Erfolg. Kirchenvertreter, Jugendverbände und Sozialdemokraten verurteilen zwar die nun wachsende Militanz der Hausbesetzer, halten die handstreichartige Pauschalaktion der Polizei aber für einen Rechtsbruch. Die SPD organisiert eine Großkundgebung am 10. März vor St. Lorenz. Ihr Kulturreferent Hermann Glaser tritt als lautester Kritiker auf und klagt einen „Polizei-, Justiz- und jugendpolitischen Skandal ersten Grades“ an. Bundesweit kosten die Presseorgane es an ihrem politischen Ufer aus, wie Konservative, Liberale und Sozialdemokraten einander beharken, sowohl im Stadtrat als auch im Land- und Bundestag. Nur vom SPD-Oberbürgermeister Andreas Urschlechter kommt so gut wie kein Wort; er will sich kein Recht zum Urteilen anmaßen.

Es fehlt jede Besonnenheit, stellt der damalige NZ-Chefredakteur Gustav Roeder medien- und politikkritisch fest. Niemand trete unparteiisch in der Angelegenheit auf, schreibt er am 18. Juli 1981. „Unsere demokratischen Spielregeln haben sich (...) auf Abwege verirrt: im parlamentarischen Leben gilt es schon lange als erste Tugend, immer und in allem recht zu behalten.“ Dabei beschreibt Roeder auch, wie er als Zufalls-Augenzeuge die nächtliche Demo erlebte. „Das war nicht die Nacht, in der Nürnberg in den Händen des Mobs war.“

Etwas Distanz wird erst durch den Gerichtsprozess erzwungen, der für Bayerns unnachgiebigen CSU-Justizminister Karl Hillermeier peinlich endet. Das erste Verfahren ab dem 3.November 1981 gerät zur Pannenserie. Polizeiprotokolle werden zurückgehalten, legen Manipulationen nahe. Staatsanwälte werden ausgetauscht, V-Männer erweisen sich als nicht aussagefähig. Die Anklagen sind bald nicht mehr zu halten. Am 22. Dezember 1982 lässt das Landgericht das zähe Komm-Verfahren endgültig fallen. Für die Betroffenen das Eingeständnis, dass am 5. März ein staatlicher Fehltritt passiert war – politisch statt rechtlich motiviert.

Das Komm ist nach dem Ende der Selbstverwaltung und dem Umbau des Künstlerhauses seit 1997 Geschichte. Wer heute die Fakten der Massenverhaftungen nachsehen will, stößt auf Widersprüche bei Zahlen und Abläufen. Er versucht, Dichtung von Wahrheit zu trennen, liest, dass Zeitzeugen von seelischen Verwüstungen bei den inhaftierten Jugendlichen berichten. Aus dem Ereignis erwuchs eine Blase aus Meinungen.

Die linke Wochenzeitung „Der Freitag“ stellt in ihrem jüngsten Rückblick auf den Komm-Fall fest, dass die Hintergründe nie genau recherchiert worden seien. Es hat sich aber auch niemand mehr laut gemeldet, der dies gefordert hätte. Es wäre übertrieben, dahinter die Lust auf Bewahrung eines Mythos zu vermuten. Die Massenverhaftungen waren ein singuläres Geschehen an einem beliebigen Ort, ermöglicht durch fiebrige Zeitumstände. Nach Jahren des RAF-Terrors stand die bürgerliche Angst um innere Sicherheit einer unerhört frechen Öko- und Antikriegs-Jugendprotestbewegung entgegen. Die Affäre bewahrt die Erinnerung daran, wie erbittert um das Rechtsgefühl in diesem Spannungsfeld gekämpft wurde.

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