Ein wahrhaft kaiserlicher Blick

21.12.2020, 20:24 Uhr
Ein wahrhaft kaiserlicher Blick

© Archivfoto: Roland Fengler

Wer in Nürnberg und insbesondere in der Nürnberger Altstadt lebt, kennt den Anblick nur zu gut: Tag für Tag – sofern nicht gerade Lockdown herrscht – rumpeln sommers wie winters Heerscharen von Besuchern, Rucksacktouristen, Schulklassen und Reisegruppen, rauf auf die Burgfreiung, um den Ausblick auf "des Reiches Schatzkästlein" zu genießen. Manch einer erklimmt zusätzlich den Sinwellturm, um die bestmögliche Perspektive für Urlaubsbilder oder die persönliche Instagram-Story zu erhaschen.

Ein wahrhaft kaiserlicher Blick

© Foto: Ludwig Riffelmacher (Privatbesitz)

Man möchte es kaum glauben, doch ist die Beliebtheit dieses wohl bekanntesten und malerischsten Blickwinkels auf Nürnberg eine recht junge Entwicklung. Zu den ersten Künstlern, die das Stadtpanorama vom Burgberg mit dem Getümmel der Türme, Kuppeln und Hausdächer für sich entdeckten, zählten Hans Eberbach und Georg Christoph Wilder, die es um 1626 in einem Ölgemälde bzw. 1834 in einer Federzeichnung verewigten. Die mediale Aufmerksamkeit setzte erst mit der weiteren Verbreitung der Fotografie um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein.

Allerdings blieb die Zahl von gemalten, gezeichneten und gewerblich fotografierten Ansichten aus diesem Blickwinkel vorerst überschaubar, ganz im Gegensatz zum Ausblick aus der Gegenrichtung vom Nordturm der Lorenzkirche oder vom Westtorgraben auf das Hallertor, die Sebalder Altstadt und die Burg, die in rauen Mengen und schier endlosen Variationen aufgelegt wurden.

Ein wahrhaft kaiserlicher Blick

© Paul Janke ( Sammlung Sebastian Gulden)

Warum dieses? Nun, vermutlich, weil den Fotografen, Malern, Ansichtskartenverlegern und Souvenirhändlern der Kaiserzeit ein Nürnberg ohne Burg im Hintergrund vorkam wie Köln ohne Dom und Helgoland ohne Lange Anna. Zwei Ansichtskartenmotive mit dem Ausblick von der Burgfreiung – eine davon hat uns unser Leser Max dankenswerterweise zur Verfügung gestellt – zeigen wir Ihnen hier.

Die Touris mit eigener Kamera jedoch focht das nicht an, und so knipsen die Aussichtshungrigen seit den 1930er Jahren droben auf der Burgfreiung eifrig um die Wette. Selbst die schrecklichen Zerstörungen, die die Bomben und Luftminen des Zweiten Weltkrieges in der Altstadt anrichteten und die noch Jahrzehnte lang offenkundig waren, konnten daran nicht rütteln. Auch Rudi Seybold, mein Großvater und begeisterter Hobbyfotograf, ließ es sich 1952 nicht entgehen, den berühmten Ausblick mit seiner Kamera festzuhalten. Ihn störte es nicht, dass sich vor ihm eine vom Krieg geschundene Stadt ausbreitete, durchsetzt von überwucherten Trümmergrundstücken, notdürftig geflickten Dächern und von Splittereinschlägen übersäten Fassaden.

Legende und Schaulust

Ein wahrhaft kaiserlicher Blick

© Ludwig Riffelmacher ( Privatbesitz)

Damit ging es ihm wie vielen Nürnberg-Touristen jener Zeit: Die Legende von des "Reiches Schatzkästlein" lebte in ihren Augen fort. Dazu gesellte sich freilich eine gewisse Schaulust an dem Bild der zerstörten Stadt – die jüngere Kulturwissenschaft hat dafür den Begriff "Ruin Porn" gemünzt –, aber auch die Freude und der Stolz über die Leistung des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders, von dem die Mehrzahl der Besucher profitierten.

Tatsächlich haben die prägenden Wahrzeichen Nürnbergs die Stürme der Zeit überdauert: Da sind natürlich zuallererst die beiden großen Altstadtpfarrkirchen St. Lorenz und St. Sebald, dann die Dächer des Wolff’schen Rathausbaus, der Weiße Turm, die Kuppel von St. Elisabeth und die bulligen Rundtürme der letzten Stadtmauer.

Ein wahrhaft kaiserlicher Blick

© Foto: Sebastian Gulden

In den vergangenen rund 120 Jahren gesellten sich weitere Landmarken außerhalb des Mauerringes hinzu, die meisten blieben, andere sind mittlerweile wieder verschwunden, darunter die Kuppeln des Opernhauses und des Empfangsgebäudes am Hauptbahnhof (beide 1905), das Plärrerhochhaus (1953), das AOK-Gebäude (1971, 2018 abgerissen), der Fernmeldeturm (1980), das Heizkraftwerk in Sandreuth (1982), die Türme der Christus-, der Ludwigs- und der Markuskirche und der "Siemens-Schlot" (1898), der 1985 gesprengt wurde.

Auch die belebte Dachlandschaft der Häuser am Ölberg, den Krämers- und den Schmiedgassen, die den optisch kaum zu unterschätzenden Vorder- oder Mittelgrund dieser Perspektive darstellen, ist in ihren Grundzügen erhalten geblieben. Von ein paar Ausnahmen abgesehen mussten die meisten Häuser nach 1945 neu errichtet werden, wenngleich man dabei in der Regel die historischen Proportionen und Dachformen wiederaufnahm.

Dass der Ausblick von der Burgfreiung sich noch heute solch großer Beliebtheit erfreut, zeigt, wie sich Nürnberg trotz aller Widrigkeiten der Geschichte seinen Charakter und seine Attraktivität bewahren konnte. Das ist beruhigend, aber auch eine Mahnung, wachsam zu bleiben. Das Bild einer Stadt ist in stetigem Wandel. Es liegt an uns, diesen Wandel mitzugestalten, bisweilen aber auch dafür einzutreten, dass Geliebtes, Bewährtes und Wertvolles bleibt, wie es ist. In diesem Sinne: Auf ein frohes Fest!

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