Eine Villa, die Stadtgeschichte schrieb

11.8.2010, 07:47 Uhr
Eine Villa, die Stadtgeschichte schrieb

© Harald Sippel

Die aktuelle Diskussion um die großbürgerliche Villa Virchowstraße 19 zeigt die Wichtigkeit dieser scheinbaren Binsenweisheit für die richtige Einschätzung des geschichtlichen Wertes eines Hauses. Einzigartig konzentriert sich hier in der Abfolge von Eigentümern und Mietern wie in einem Brennglas lokale Zeitgeschichte durch ihre jeweiligen Eliten.

Da war zunächst der Bauherr Emil Rosenfelder, der zusammen mit seinem Bruder Oskar die Vereinigten Papierwerke in Nürnberg und Heroldsberg besaß und seit 1923 bis zur erzwungenen Emigration im August 1933 mit seinem Sohn Paul das Anwesen bewohnte. 1925 meldeten die aus Bamberg stammenden Brüder Rosenfelder ihr Papiertaschentuch unter dem rasanten Namen „Tempo“ – heute eine Weltmarke – als Patent an.

Eine Villa, die Stadtgeschichte schrieb

© Susanne Rieger

Durch die „Machtergreifung“ Hitlers wurden aus den innovativen jüdischen Unternehmern über Nacht Geächtete. Gewarnt durch die Anfeindungen der Nazis, bereits vor 1933, entschieden sich die Rosenfelders frühzeitig zum Verlassen ihrer Heimat, wobei ihnen die Existenz eines Zweigwerkes in England, das sie fortführen konnten, die Entscheidung erleichtert haben dürfte. Die Nazis machten ihnen umgehend die Rückkehr durch den Entzug der Staatsbürgerschaft und die Verurteilung zu Geld- und Haftstrafen wegen angeblicher Steuer- und Devisenvergehen unmöglich. Über ihren zurückgelassenen Besitz verfügte der Staat nach Gutdünken.

Das voll möblierte Anwesen am Stadtpark sicherten sich die Machthaber selbst und schufen hier als bösen Treppenwitz der Geschichte Dienstwohnungen für die lokalen Exponenten des Unterdrückungs- und Verfolgungsapparats: Seit November 1935 residierte in der Virchowstraße 19 der Polizeipräsident, Gestapo-Leiter und spätere SS-General Benno Martin, zusammen mit seiner rechten Hand Georg Kießel. Martin wurde für die Verbrechen, die in seinem Verantwortungsbereich begonnen wurden, wie die Verschleppung der fränkischen Juden in den Osten und die brutale Bekämpfung der politischen und religiösen Nazi-Gegner, nie zur Verantwortung gezogen.

Näheres über den unrühmlichen Werdegang seines Adlatus’ Kießel weiß der Nürnberger Gestapo-Forscher Thomas Auburger: Nach mehreren Versetzungen und Beförderungen innerhalb der Gestapo- und SS-Hierarchie war Kießel von April 1941 bis Dezember 1942 dem Chef der Militärverwaltung in der serbischen Hauptstadt Belgrad unterstellt und somit mitverantwortlich für den Genozid an den Juden im besetzten Jugoslawien und für Repressalien gegen die Bevölkerung. Dies veranlasste die Alliierten dazu, ihn nach Kriegsende an die dortigen Behörden auszuliefern. In einem Militärgerichtsverfahren zum Tode verurteilt, wurde Kießel 1950 in Belgrad hingerichtet.

Auch die dritte Wohnung im Haus war bis 1945 mit hochrangigen Vertretern des NS-Systems belegt, in den Jahren 1938/39 etwa mit dem Generalmajor der SS und der Polizei, Leo von Falkowski, der in dieser Zeit die Nürnberger Ordnungspolizei leitete. Wegen der jüdischen Vorgeschichte und ihrer Bedeutung in der Nazi-Zeit plädiert auch der Experte Auburger für den Erhalt der Villa: „Es wäre ein Verlust für die Stadt Nürnberg, wenn dieses Gebäude abgerissen wird.“

Trotz ihrer Beschädigung im Bombenkrieg blieb die Virchowstraße 19 auch nach 1945 eine exklusive Wohnadresse. Dies beweist der Einzug des 1946 zum ersten Nürnberger Nachkriegsstadtkämmerer gewählten Georg Zitzmann, der das Haus Ende der 50er Jahre erwarb und sein Amt bis zur Pensionierung im Jahre 1970 ausübte. Zitzmann, bereits vor dem Krieg ein in Berlin erfolgreich agierender Wirtschaftsjurist und Volkswirt, war eine prägende politische Persönlichkeit des bürgerlichen Lagers und brachte durch seine Kandidatur als Oberbürgermeister 1952 die SPD in ihrer Hochburg mit einem Stimmenanteil von 49,1 Prozent an den Rand einer Niederlage.

1955 erhielt er von der hiesigen Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften die Ehrendoktorwürde „in Anerkennung seiner besonderen Verdienste auf dem Gebiet der Kommunalpolitik und um die Gestaltung der kulturellen Einrichtungen seiner Vaterstadt Nürnberg“. Konkret gemeint war damit zum Beispiel sein Einsatz für die Errichtung der Meistersingerhalle. Zitzmann starb 1990 im Alter von 86 Jahren.

Drei entscheidende Phasen der Stadtgeschichte, einmalig kondensiert in den Biografien der Bewohner eines Hauses, sollten genug Grund zu seinem Erhalt sein, damit nicht auch an dieser Stelle eines Tages, wenn sich die Wahrnehmung geschichtlicher Tatsachen durch die Verantwortlichen gewandelt hat, vor einem gesichtslosen Neubau eine Informationstafel über die historische Bedeutung seines Vorgängers angebracht werden muss.

Die Autorin ist Politikwissenschaftlerin und erforscht unter anderem die jüdische Geschichte Nürnbergs.