Luther: "Er war ein Berserker, kein Schöngeist"

9.11.2016, 17:36 Uhr
Der freischaffende Publizist und Schriftsteller, geboren 1957 in Kleinostheim, lebt heute in Berlin.

© David Biene Der freischaffende Publizist und Schriftsteller, geboren 1957 in Kleinostheim, lebt heute in Berlin.

Herr Preisendörfer, Luther hat unser Deutsch doch nicht wirklich erfunden, oder?

Bruno Preisendörfer: Nein, nicht erfunden. Aber Luther hat die Schriftsprache maßgeblich vorangebracht durch seine Bibelübersetzung. Diese Sprache, die er da entwickelt hat, beruhte auf der sächsisch-meißnischen Kanzleisprache. Das war eine Verwaltungssprache, die von den Gelehrten in ganz Deutschland gelesen werden konnte. Sonst hat ja in jedem Kirchspiel jede und jeder anders gesprochen, mitunter schon in Orten, die nur 30 oder 40 Kilometer auseinanderlagen. Es gab unzählige deutsche Dialekte, außerdem das Niederdeutsche, das Oberdeutsche und das Niederrheinische. Da konnten sich die Menschen nicht wirklich verständigen.

Die Bezeichnung Deutschland gab es ja schon seit dem 15. Jahrhundert. Wieso hatten die Menschen keine einheitliche Sprache?

Bruno Preisendörfer: Weil die Leute ihr Leben lang am selben Ort geblieben sind. Sie waren nicht mobil, wodurch sich die Sprache vereinheitlicht hätte.

Wie hat denn ausgerechnet Luthers Bibelübersetzung unser heutiges Deutsch geprägt?

Bruno Preisendörfer: Es gab ja zuvor auch schon etliche deutsche Bibelübersetzungen. Aber sie waren alle in den Schriftsprachen der jeweiligen Regionen verfasst. Luther lebte in Wittenberg in Sachsen und benutzte erstmals eine Sprache, die alle gebildeten Menschen verstanden. Natürlich hat er sie auch abgewandelt, intensiviert und poetisiert. Das hatte wieder Rückwirkungen auf die gesprochene Sprache.

Niedriger Alphabetisierungsgrad

Haben sich die Menschen damals um diese neue Bibel gerissen?

Bruno Preisendörfer: Nein. Damals konnten ja nur fünf bis zehn Prozent der Leute lesen. Die Pfarrer haben die Lutherbibel von der Kanzel aus vorgetragen. Außerdem haben diese Bücher ja auch Geld gekostet. Wir haben es mit einer Zeit zu tun, in der Menschen auf dem Land vielleicht nur drei Mal in ihrem Leben eine Münze in der Hand hielten. Man zahlte nicht mit Geld, sondern in Naturalien. Die Mägde oder Tagelöhner hatten nur eine Schlafstelle und ihr Essen. Diese Menschen konnten sich keine Bücher kaufen.

Welche Bedeutung hatte denn der Buchdruck für die Verbreitung der Lutherbibel?

Bruno Preisendörfer: Ohne dieses technische Verfahren hätte die Verbreitung der Lutherbibel gar nicht finanziert werden können. Wenn ich jede Seite aus einem Holz herausschneiden muss, wie das vor der Beweglichkeit der Lettern üblich war, dann dauert das unglaublich lange und ist unendlich teuer. Wenn ich die Buchstaben einzeln fabriziere und sie dann zusammensetzen kann, geht das erstens viel schneller und ist zweitens viel billiger. Das hat aber den Nachteil – und da ist jetzt Nürnberg besonders interessant – dass man mit neuen technischen Verfahren sehr schnell und kostengünstig nachdrucken kann. Die Nürnberger Buchdrucker haben das gemacht und den Wittenberger Kollegen das Geschäft vermiest. Luther hat Eingaben an den Stadtrat von Nürnberg gemacht, um darauf hinzuwirken, dass die Nürnberger wenigstens vier oder fünf Monate mit dem Nachdruck abwarteten.

Wieso wurde ausgerechnet Martin Luther damals zum Star-Autor?

Bruno Preisendörfer: Sein wichtigster Konkurrent war der Reformator Huldrych Zwingli in Zürich. Auch er hat mit einem Team die Bibel in einheitliches Deutsch übersetzt. Zwingli war mit der Vollbibel sogar früher fertig, nämlich 1531. Die Vollbibel Luthers erschien erst im Jahr 1534. Und trotzdem hat sich Zwingli nicht durchgesetzt. Das Besondere war die Raffinesse und Sprachgewalt Luthers. Außerdem hat er sehr darauf geachtet, Dialekt zu vermeiden.

Polemik gehörte zu Luthers Art

Aber er sagte doch, man müsse dem Volke aufs Maul schauen ...

Bruno Preisendörfer: ... was oft missverständlich interpretiert wird. Denn Luther hat in der Bibelübersetzung nicht so geschrieben wie die Leute gesprochen haben. Dann hätte er die dialektale Begrenzung nicht überwinden können. Was er meinte war: So zu schreiben, dass es einerseits theologisch korrekt und andererseits für die Menschen verständlich war. Und es ging ja nicht um irgendwelche Geschichten, sondern um die Heilige Schrift, um Gottes Wort. Er selber nennt ein Beispiel aus dem Ave Maria, aus dem Lukasevangelium, wo es heißt "Maria ist voller Gnaden". Er hat sich darüber lustig gemacht und gesagt: "Woran denkt ein Bauer, wenn er voll hört? An ein volles Fass Bier." Das ist typisch für Luther, diese Polemik. Er übersetzte stattdessen: "Maria, du holdselige ..." Man könnte noch viele Anekdoten erzählen.

Bitte noch eine!

Bruno Preisendörfer: Jeder Abendländer, ob er nun Christ ist oder nicht, kennt die Arche Noah. Bei Luther heißt das Ding allerdings nicht Arche, sondern einfach Kasten. Gott sagte zu Noah: "Du sollst einen Holzkasten zimmern." Für Luther war Arche eben kein deutsches Wort. Und die Leute konnten mit einem solch komischen, griechischen Ausdruck nichts anfangen. Außerdem war Luther ein sehr innovativer Poet und Dichter. Er verwendete gerne Reime und Alliterationen, die ja die Funktion von Gedächtnisstützen haben. Etwa "mein Herr und mein Hirte" oder "Stecken und Stab". Das Deutsche galt damals als Tölpel-Sprache. Luther sagte: "Ich muss mit meiner Kuckuckssprache die Sprache der Nachtigall (womit er das Hebräische meinte) nachahmen."

Wie würden wir heute sprechen, wenn Luther nicht gewesen wäre?

Bruno Preisendörfer: Das ist schwierig zu beantworten. Aber vielleicht hilft ein Vergleich zur Verdeutlichung. Ich bin in einem Dorf bei Aschaffenburg in Unterfranken aufgewachsen. Und bei uns sprachen die Menschen in jedem Dorf anders. Dann kam das Fernsehen. Man könnte also sagen, es gab analog zur Alphabetisierung in früheren Jahrhunderten so eine Art Televisionierung in den 1960er und 70er Jahren. Im Fernsehen wurde Hochdeutsch gesprochen und das hat die Dialekte auch in den Dörfern über 20 oder 30 Jahre hinweg abgeschliffen. In meiner Familie reden heute alle immer noch mundartlich, aber deutlich näher an der Hochsprache als in meiner Kindheit. So ähnlich war der Effekt, der in der Lutherzeit durch die Lutherbibel stattgefunden hat. Allerdings war das ein sehr langer Prozess.

Der Reformator hat ein einfaches, aber wortgewaltiges Deutsch gesprochen. Er scheint auch ein gewaltiger Mensch gewesen zu sein.

Bruno Preisendörfer: Er war ein Berserker, kein Schöngeist. Er sah sich als Prophet, der von seiner Botschaft und vom göttlichen Auftrag überzeugt war. Deshalb suchte er nach Methoden und Ausdrucksformen, um sich den Menschen, die er in eine bestimmte Richtung bewegen wollte, verständlich zu machen. Er sagte wörtlich, seine Deutschen, das seien "grobe Säue". Und bei groben Säuen nützen feinsinnige Erwägungen nichts. Auf der Kanzel redete Luther Klartext, daher kommt auch das Wort abkanzeln.

"Was Luther über die Frauen sagte, war nicht gerade feinfühlig"

Von ihm überliefert sind ja äußerst vulgäre Aussprüche wie "Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz". Aber in der Bibel hat er solche Derbheiten doch vermieden, oder?

Bruno Preisendörfer: In der Bibel schon. Aber in seinen Predigtschriften hat er sehr deutliche Worte gewählt. Derb ist noch milde ausgedrückt. Er war wirklich brutal und hatte eine regelrechte Lust daran, andere zu verletzen. Zur damaligen Zeit lebte Erasmus von Rotterdam, der ein feinsinniger Mensch war, eine europäische Berühmtheit wegen seiner Eleganz. Dessen Bibelkommentar hat Luther für seine eigene Übersetzung benutzt. Dann ist Luther mit Erasmus in Streit geraten, eine schriftliche Fehde, und hat über diesen großen Stilisten gesagt, er serviere Kot in goldenen Schüsseln. Auch das, was Luther über die Frauen sagte, war nicht gerade feinfühlig.

Nämlich?

Bruno Preisendörfer: Luther hat sich auf die Kanzel gestellt und zu den Frauen, die unterhalb direkt vor ihm saßen gesagt: "Ihr müsst Kinder auf die Welt bringen, gebären, also tragen, tragen tragen. Und wenn ihr euch zu Tode traget, so fahret hin, denn das ist euer Los."

Diese Grobheit war also ein Wesenszug von ihm?

Bruno Preisendörfer: Unbedingt. Aber man muss das auch in die damalige Zeit einordnen. Literaturwissenschaftler sprechen sogar vom Grobianismus. Es war eine sehr gewalttätige Zeit, nicht nur in Worten, sondern auch in Taten. Aber es gibt auch sehr anrührende Szenen, die von Luther überliefert sind. Zum Beispiel, als er sich, frisch verheiratet, über die Ehe auslässt und sagt: "Früher war er allein. Dann wacht er auf und sieht neben sich ein paar Zöpfe liegen." Das greift einem schon irgendwie ans Herz.

Luther hat seine Bibelübersetzung 1521 geschrieben. Trotzdem erschien eines der ersten deutschen Wörterbücher "Die teutsch Sprache" im Jahr 1561 auf Latein. Ist das nicht absurd?

Bruno Preisendörfer: Es war ja nicht so, dass Luther die Bibel übersetzt hat und sich damit sofort eine deutsche Hochsprache etabliert hatte. Dieser Prozess dauerte sehr lange. Alle Gelehrten und Gebildeten nutzten damals Latein als Referenzsprache. Der erste, der an deutschen Universitäten Vorlesungen auf Deutsch gehalten hat, war der Jurist und Philosoph Christian Thomasius, der wesentlich zur Abschaffung der Hexenprozesse beitrug, im Jahr 1700. Da lag Luther schon eineinhalb Jahrhunderte im Sarg.

Was hat Sie bei der Recherche am meisten fasziniert?

Bruno Preisendörfer: Erschüttert hat mich diese ungeheure körperliche und geistige Gewalttätigkeit in jeder Dimension des damaligen menschlichen Alltagslebens. Folter war keine Willkür, das waren geregelte Akte. In Nürnberg wurde einem Ratsherren-Sohn wegen seiner "lesterlichen Schwüre" die Zunge herausgeschnitten. So etwas war nichts Ungewöhnliches. Diese ungeheure Härte, dieser Daseinskampf. Da ist man froh, dass man in zivilisierten Zeiten lebt. Und sehr dankbar.

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