Platz 1 Prosa: "Das bleibt ganz unter uns"

Nicht, dass du denkst, du hättest mir nicht Leid getan! Du hast ja zum Erbarmen müde und kalt ausgesehen, als du im Schlafanzug, nur mit der Flinte unter dem Arm, über den Acker in den Wald gestolpert kamst, weil das „Wildschwein-Handy“ geklingelt hatte.

Jawohl, deine Erfindung! Du befestigst ein Fass Mais, vorne offen, flexibel über einem eingeschalteten Handy, so dass, wenn wir daraus fressen, sich das Fass senkt, auf das Handy drückt, das Handy angeht und du - zu jeder Tages- und Nachtzeit - angewetzt kommst in der Hoffnung, uns alle abknallen zu können.

Und wie du dann auf dem Hochsitz gesessen bist, steinmüde, sauärgerlich und vergeblich Ausschau hieltest, während wir im Unterholz lagen, mucksmäuschenstill und eins mit der Nacht. Sogar die Kids gaben keinen hörbaren Schnaufer von sich. Wenn ich ihnen sage: „RUHE!“, dann sind sie ruhig, vier Stunden lang. Mit unseren Kindern ist das gar kein Problem. Wenn ich dagegen an die Schimpfwörter und Widerworte denke, die du dir von deiner nichtsnutzigen Tochter gefallen lassen musst - sowas würde bei uns keiner Sau einfallen! Ihr seid nämlich eine degenerierte Rasse, mein lieber Erwin, und das merkt man am Zerfall der Familie zuerst.

Woran man es auch merkt, ist das Absinken der Intelligenz. Dachtest du wirklich, mein Lieber, wir hätten Dein Wildschweinhandy nicht bemerkt? Ich bitte Dich! Abgesehen davon, dass man ein Stück davon sehen konnte, stank es auch noch geradezu unerträglich nach künstlichem Gummi. Außerdem hatten wir deinen lumpigen Mais auch gar nicht notwendig: Es war satter, später Herbst, wir waren alle voll wie die Haubitzen mit Bucheckern, Käfern, Kastanien, Eicheln und Trüffeln, aber so langsam wie du sind wir natürlich nie gewesen. Was wir dann bei deinem Fass wollten? Du weißt ja, im Herbst werden die Frischlinge übermütig und wollen andauernd spielen. Da hat der alte Adam, unser Rudelführer gesagt, er zeigt ihnen was wirklich Lustiges: Ein Fass Mais, wenn man daraus frisst, kommt auf Knopfdruck der Bauer angerannt. Ihr dürft euch eins grinsen, hat er gesagt, aber ganz leise, das haben sie ihm auch fest versprochen. Sogar die kleine Annabella war absolut still, als du - zähneklappernd vor Kälte - auf deinem Hochsitz gesessen bist.

Warum wolltest du uns erschießen? Weißt du es noch? Ja, du weißt es noch: Weil wir in den letzten Jahren immer Mal wieder schön der Reihe nach, ohne Spuren zu hinterlassen, in dein Maisfeld eingedrungen sind und es von innen abgegrast haben.

Aber zuerst einmal: Es ist überhaupt nicht dein Maisfeld! Bevor du hier deinen billigen Mais angebaut hast für die dämlichen Rindviecher und Biogasanlagen, stand hier ein wunderbarer Mischwald, der reichlich Futter und Schutz bot - unser Wald. Und manchmal denke ich, es wäre gescheiter gewesen, ihr hättet den Wald stehen lassen und euch aufs Pilze- und Beerensammeln beschränkt, gescheiter für euch, meine ich, denn was ist dieses Jahr passiert?

Du hattest gehofft, dass dein neuer Genmais weniger von Schädlingen angegriffen werden sollte, als der normale Mais davor. Und jetzt hörte ich dich fluchen, dass du stattdessen mehr Ungeziefer hattest als zuvor. Dass man dich über den Tisch gezogen hätte und du als Antwort auf deine Beschwerden eine Menge schweineteurer Pestizide angeboten bekommen hättest, die du auch noch selber bezahlen solltest.

Also entschuldige: Ich selbst verlasse mich bei meinen Entscheidungen nicht einfach auf irgendwelche (Werbe-)versprechen, sondern auf meine Nase und mein Bauchgefühl: Einen so zu nennenden Geruchssinn habt ihr Menschen ja nicht, wie könntest du sonst dieses bestialisch stinkende Chemiezeugs auf dein Feld ausbringen? Und für ein richtiges Bauchgefühl hast Du außerdem gar keinen ordentlichen Bauch. Es gilt bei euch Menschen ohnehin nicht als schick, einen zu haben. Zum Essen habt ihr sowieso ein Verhältnis, das ich nicht begreifen kann: Einerseits wird ein Riesenwirbel darum veranstaltet und die Besserwisser in eurer Flimmerkiste zeigen unentwegt, wie man es richtig zubereiten soll, andererseits ist für euch schon jede kleine Gewichtszunahme die große Katastrophe. Dieser Zwang zum Eigentor ist für euch richtig typisch, sagt der alte Adam, und weil ihr mit solcher Begeisterung an dem Ast sägt, auf dem ihr sitzt, wird es auch bald ein Ende haben mit euch als herrschende Spezies auf diesem Planeten.

Dann wird dein armes Maisfeld wieder uns gehören, aber jetzt wollen wir es ja gar nicht haben. Das dürre, chemieverseuchte, mit resistenten Schädlingen befallene Zeug, das du seit neuestem anbaust, will ja wirklich keine alte Sau mehr fressen.

Wie gesagt, du tust mir Leid, denn du kannst nicht einfach weggehen und dir woanders etwas zu Essen suchen wie wir. Du bist an deinen Besitz gekettet und musst dieses ruinierte Land auch noch deinen Kindern vererben. Wir allerdings sind frei geboren und haben inzwischen das Revier gewechselt. Wir bleiben eine Weile im Wald, wo an manchen Stellen noch Gleichgewicht, Freiheit und Frieden herrschen, wie es unserem Wesen entspricht.

Aber von uns aus, das wollte ich dir noch sagen, ist da keine Feindschaft. Von allem, was passiert ist, erfährt niemand ein Wort. Ich will ja nicht, dass die anderen über dich lachen und du zum Schaden auch noch den Spott hast. Du kannst dich auf mich verlassen:

Das bleibt ganz unter uns!

Wenn wir in der Gegend sind, schauen wir Mal wieder bei dir vorbei. Nichts für ungut!

Deine Anastacia Wurz

P.S.: Warum erntest du nicht die Holunderbeeren am Waldrand ab, die unbeachtet von den Käfern gefressen werden? Die schmecken gut und sind gesund und man kann einen prima Likör daraus machen.

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