Politischer Stadtrundgang zu den „Nürnberger Gesetzen“

16.9.2010, 07:22 Uhr
Politischer Stadtrundgang zu den „Nürnberger Gesetzen“

© Harald Sippel

Genau 75 Jahre war es gestern her, dass sie verabschiedet wurden. Ein Machwerk, das für hunderttausende Menschen Folgen hatte, die sich die meisten von ihnen anfangs gar nicht ausmalen konnten oder wollten – Entrechtung, Isolierung, Vertreibung, Ermordung.

An Orte des damaligen Geschehens und an betroffene Personen wurde deshalb gestern mit einem politischen Stadtrundgang erinnert. Einen Bogen in die Gegenwart schlugen die Veranstalter – die Bündnisgrünen – an jeder Station, nahmen eine politische Einordnung vor, zogen aus dem seinerzeitigen Geschehen ebenso wie aus aktuellen Entwicklungen und Diskussionen Schlüsse für politisches Handeln heute.

Stadtrat Achim Mletzko etwa plädierte vor dem AOK-Gebäude am Frauentorgraben dafür, das Verbot der rechtsextremen NPD zu forcieren. In dem Gebäude, das einst an diesem Platz stand, wurden 1935 vom eilig einberufenen Reichstag die drei „Nürnberger Gesetze“ angenommen. Welche Bedeutung gesetzliche Regelungen über das Juristische hinaus haben können, machte am selben Ort Eckart Dietzfelbinger vom Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände deutlich: „Ab da glaubte eine ganze Generation, die Diskriminierung und Verfolgung der Juden sei legal.“

Dabei hätten jüdische Gemeinden wie Antisemiten anfangs geglaubt, die Gesetze hätten deeskalierenden Charakter. Tatsächlich, erklärte der Historiker, brauchte das Naziregime zur Kriegsvorbereitung Ruhe im Reich, wollte so den Übergang von der „spontanen“ zur „geregelten“ Judenverfolgung erreichen. Dieses „äußerst bizarre und komplexe“ Gesetzespaket und seine Durchführungsverordnungen hätten „das natürliche Gut-Böse-Bewusstsein der Menschen absorbiert“, resümierte Dietzfelbinger. Und Nürnberg gab mit dem Reichsparteitag die ideale Kulisse ab.

Volkstümlich und menschenverachtend zugleich

Ein ganz anderes Gesicht Frankens beschrieb Martin Schieber vom Verein „Geschichte für Alle“ vor dem Polizeipräsidium: das Julius Streichers. Der selbst ernannte Frankenführer verbreitete in Mittelfranken einen tollwütigen und eliminatorischen Judenhass, der direkt in die Denunziation von „Rasseschändern“ gemäß der „Nürnberger Gesetze“ führte und von dort in die Vernichtungslager. Streicher, der „ein gewalttätiges Erscheinungsbild pflegte, mit Uniform, Reitgerte und Schäferhunden in der Stadt unterwegs war“, sei zugleich volkstümlich und menschenverachtend gewesen, erklärte der Historiker Schieber – auch heute ein nur vermeintlicher Gegensatz.

Daran anknüpfend wies der bayerische Grünen-Vorsitzende Dieter Janecek darauf hin, dass „die Gewalt, die von Streicher ausging, im ersten Schritt eine Gewalt der Sprache“ war. Streicher war es, der mit seinem „Stürmer“ mehr als zwei Jahrzehnte lang plumpesten Antisemitismus und schärfste Hetze in hunderttausendfacher Auflage druckte und verbreitete. Auch in aktuellen Debatten würden immer wieder „Begrifflichkeiten bemüht, die eine Diskussion unmöglich machen und Hass schüren“. Janecek warnte davor, Menschen zu vertrauen, die „einfache Antworten auf komplexe Fragen“ haben.

Diesen Ball nahm die Sozialwissenschaftlerin Birgit Mair in der „Straße der Menschenrechte“ wieder auf. Sie erklärte, ihr machten vor allem die Rechtspopulisten Angst, und zeigte eine im „Focus“ abgedruckte Anzeige für das neueste Werk eines rechtslastigen Autors. „Man muss unterscheiden zwischen Einstellung und Verhalten“, sagte Mair – es gebe auch heute noch deutlich mehr Rassismus als man sehe. Dieser münde auch heute und auch in Nürnberg in brutale Angriffe auf Menschen, wie zuletzt mehrmals in den letzten Monaten. Auch Mair machte in der Stein gewordenen Selbstverpflichtung der „Straße der Menschenrechte“ klar: Es muss nicht nur erinnert und gemahnt, sondern auch gehandelt werden.