Von wegen dumme Kuh!

20.06.2009, 00:00 Uhr
Von wegen dumme Kuh!

© dpa

Atlantis soll nicht untergehen. Schon gar nicht im Schlachthof. Irgendwann wird diese Kuh  mit den braunen Glubschaugen an Altersschwäche sterben. So ist es ihr vorherbestimmt von den Kindern des Bauern Günther Felßner. Der verdreht nur die Augen. «Wenn’s denn sein muss, leisten wir uns halt diesen Luxus.» Schließlich ist  die fünfjährige Atlantis, die offiziell «Nummer 600» heißt, das Lieblingsvieh seiner Familie – und die einzige unter 100 Multi-Kulti-Kühen, also Tieren verschiedener Rassen – die auf dem Hof in Günthersbühl einen Namen trägt.

Sie war so niedlich, als sie geboren wurde. Und die Kinder schlossen sie sofort ins Herz. Nein, die soll einmal nicht per Bolzenschuss auf die ewige Weide befördert und anschließend zu Wurst, Schuhen, Jacken, Gürteln oder Sätteln verarbeitet werden wie all die anderen 1,23 Millionen bayerischen Kühe.  Sie soll leben. Und damit Schluss.

Atlantis hat von ihrer Sonderstellung keinen blassen Schimmer.  Sie ahnt nicht, dass die anderen hier am Hof mit fünf bis sechs Jahren ihren letzten Gang antreten müssen und dem Bauern dafür einen Ertrag von 500 bis 1000 Euro bringen. Und sie hat auch keine Vorstellung davon, was ihre Milch derzeit wert ist: nur 20 Cent pro Liter – weniger als Wasser.

Im Laufstall, in dem sich hier alle frei bewegen können, hat sie einen festen Platz in der Hierarchie, und zwar ziemlich weit oben. Denn sie ist eine der wenigen, die Hörner trägt und das verschafft ihr in der Herde Respekt. Normalerweise wird die Anlage, aus der sich das Horn entwickelt, bei etwa drei Wochen alten Kälbern mit dem Brennstab zerstört, wenn sie denn später im Laufstall leben sollen. Die Tiere könnten sich sonst bei Rangeleien gegenseitig verletzen.

Bei erwachsenen Tieren darf das Horn nur unter örtlicher Betäubung abgeschnitten werden. Doch Bauer Felßner lässt es der einen oder anderen Kuh, wenn er merkt, dass sie in der Hackordnung unten steht: «Mit Horn ist sie nicht so leicht der Depp.»

Ob er ein emotionales Verhältnis zu seinen Tieren hat? «Unbedingt», sagt der 42-Jährige. Tja, das mit dem Schlachthof sei « nie schön». Fast jede Woche würden Tiere abgeholt und er hänge an jeder Kuh. Manchmal mache er sich Gedanken, ob das denn richtig sei mit der Nutzung der Rinder. Doch wenn die Menschen kein Fleisch essen würden, dürften die Tiere nie geboren werden und leben. Und das sei doch auch wieder jammerschade.

Als Bauer müsse er seinen Tieren  das Leben so angenehm wie möglich machen und dazu gehöre ein bequemes Bett aus weichem Stroh, Ruhe zum Fressen und Wiederkäuen, Sauberkeit, Licht für den Stoffwechsel und gutes Futter.  Und dabei gibt’s nur das Beste, und zwar vom eigenen Anbau. Auf Fremdfutter lässt Felßner sich nicht mehr ein, seit er im Jahr 2001 einen BSE-Fall im Stall hatte und alle Tiere keulen musste. «Apocalypse Cow» hatten die Zeitungen damals getitelt. Wie das passieren konnte? Es ist ihm ein Rätsel und der Schock sitzt tief. Niemals wieder darf es dazu kommen, sagt er und streichelt die vier hochschwangeren Kühe, die in einer abgeteilten «Bucht» auf die Niederkunft warten.

Erst wenn eine Kuh das erste Mal gekalbt hat, gibt sie Milch. Die meisten Landwirte trennen die Kälbchen entweder gleich oder spätestens nach einem halben Tag von ihren Müttern, weil der Trennungsschmerz umso größer wird, je länger sie zusammenbleiben. Meist kriegen die Kälbchen acht Tage lang die Erstlingsmilch, die sogenannte Biest-Milch, die so aussieht wie Vanillepudding und viele Abwehrstoffe enthält. Von nun an wird die Mutterkuh etwa 300 Tage lang gemolken und dann «trocken gestellt», bis sie das nächste Mal kalbt – idealerweise einmal im Jahr.  Doch das mit dem Melken ist nicht so einfach. Damit die Kuh ihre Milch hergibt, muss der Bauer das Euter stimulieren.

«Ein hocherotischer Vorgang», findet Felßner. Erst jetzt schüttet die Hirnanhangdrüse das Hormon Oxytocin aus, das die Milch aus den Drüsen des Euters in die sogenannte Zisterne oberhalb der Zitzen einschießen lässt. Schreit der Bauer und verursacht den Tieren Stress, dann klappt’s nicht. Denn die Kuh, die vom Auerochsen abstammt, ist ein Fluchttier. Und wer in Panik fliehen muss, kann nicht gleichzeitig sein Baby säugen.  

«Am Anfang war die Kuh», behauptet  Autor Florian Werner, der das Buch «Die Kuh» (Verlag Nagel & Kimche, 19,90 Euro) veröffentlicht hat und das weibliche Rind von oben bis unten beleuchtet. Zum Beweis zitiert er die Bibel: Als Gott Himmel und Erde gemacht hatte, erschuf er zunächst das Vieh und erst dann die Menschen. Schließlich hatte er zu Adam und Eva gesagt: «Seid fruchtbar und mehret euch und herrschet über das Vieh.» Also waren Adam und Eva bereits von Kühen umgeben, als sie die Erde betraten.

Die alten Ägypter glaubten, dass das Firmament über ihnen der Unterleib einer gewaltigen Himmelskuh sei. Und die germanische Mythologie berichtet, dass eine Urkuh mit ihrer Milch das Überleben der ersten Erdenbewohner sicherte.

Doch wie lange noch? Schließlich ist die Milch nichts mehr wert. Viele Bauern überlegen, heuer noch den Melkeimer endgültig in die Ecke zu werfen und ihre Kühe ins Jenseits zu schicken. «Es gibt keinen, dem dann nicht die Tränen in den Augen stehen, denn sie hängen alle an ihren Tieren», weiß Felßner, der selbst um jeden Preis durchhalten will. Mit den Kühen stirbt auch die ländliche Tradition. Und es verschwinden die unzähligen Anekdoten.

Marie Nussel kennt viele davon. Zum Beispiel die von dem ausgebüxten Schwein, das die krank darniederliegende Kuh so erschreckte, dass sie aufsprang und schlagartig wieder gesund war. Die 79-Jährige hat auf dem Hof bei Cadolzburg, der ihrer Familie in der zehnten Generation gehört, mindestens 1000 Kälber auf die Welt geholt. Schwiegersohn Georg Birkmann, ein Nebenerwerbsbauer, der tagsüber in der nahen Schokoladenfabrik arbeitet,  weiß nicht, wie lange er sich die Kühe noch leisten kann. Denn jeden Monat zahlt er drauf.  

Aber ans Aufhören will  er nicht denken. «Mein Sohn möchte Vollerwerbsbauer werden. Wenn ich den Stall zumache, brauch ich nicht mehr nach Hause kommen», scherzt er. Wie das wäre, ohne Kühe? Marie Nussel kann es sich nicht vorstellen und streichelt ihrem Lieblingstier Veronika zärtlich über den Rist. Hier am Schwanz mag die Kuh es am liebsten. Nicht da vorne am Kopf. Zehn Jahre lebt Veronika schon auf dem Hof  und hat das «schönste Euter der Welt». In ein paar Wochen wird sie wieder kalben und im November «darf sie Auto fahren». Bitte was? Bauer Birkmann lächelt. «Zum Schlachthof», sagt er leise. Nein, das sei nicht böse gemeint. Wo soll sie denn hin, wenn sie keine Milch mehr gibt und nicht mehr trächtig wird?

In den Niederlanden, ja, da betreibt einer sogar ein Altersheim für Rinder. Bert Hollander heißt er und rettete seine Lieblingskuh vor dem Schlachter, als seine Eltern den Hof aufgaben. Andere Bauern stellten ihre Lieblingstiere dazu. Inzwischen sind es 40.

«Ich habe große Achtung vor Milchkühen, aber es sind Nutztiere und sie werden letztlich auch gehalten, um getötet zu werden», meint dazu Ute Knierim, Professorin für Nutztierethologie und Tierhaltung an der Universität in Kassel. In ihrem Fachgebiet erforscht sie unter anderem, welche Bedingungen Kühe brauchen, um sich wohlzufühlen und wie sich dies für den Verbraucher  auf der Milchpackung dokumentieren lässt.

Und was braucht eine «glückliche» Kuh? Zum Beispiel eine Weide oder einen Stall, wo die Tiere herumlaufen und sich bequem hinlegen können, sagt Knierim. Denn Kühe ruhen 10 bis 14 Stunden am Tag. In dieser Zeit verdauen sie in ihren vier Mägen das Futter. «Die meisten Kühe sind Hochleistungs-Arbeiterinnen, die heutzutage im Durchschnitt bis zu 7000 Liter Milch im Jahr geben, aber häufig nur zwei bis drei Mal kalben und dann geschlachtet werden», kritisiert Knierim. Laut Statistik geht es immer mehr Kühen immer schlechter, sie stehen unter enormem Arbeitsdruck, was Stoffwechselvorgänge durcheinanderbringe. Deshalb litten sie immer früher an Euterentzündungen, Störungen der Fruchtbarkeit und Klauenerkrankungen und würden immer früher geschlachtet.

Der sinkende Milchpreis erschwert den Bauern ein kostendeckendes Wirtschaften – und das geht zu Lasten der Kühe.  «Die Wissenschaft weiß, dass die Tiere manches durch Zuwendung kompensieren», so die Professorin. Das spüren auch viele Bauern, die ihre Tiere so gut wie möglich umsorgen, auch wenn sie sich keinen modernen Laufstall leisten können. 

Die dicke Atlantis kaut schon wieder – jeden Bissen 50 bis 70 Mal. Am Tag kommen da rund 30 000 Kieferbewegungen zusammen. Sie säuft 100 Liter Wasser, vertilgt 60 Kilo Futter, gibt 25 Liter Milch und lässt 80 Liter Mist fallen. Daran erkennt Bauer Felßner auch, ob es ihr gutgeht. «Denn ein gesunder Fladen», sagt er, «ist rund, sieht aus wie Schokolade, hat eine Delle in der Mitte und drei Ringe außenrum. Das ist erstens Physik und zweitens gute Verdauung.»