Schnitt für Schnitt

8.6.2013, 10:00 Uhr
Schnitt für Schnitt

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„Keiner hat verstanden, wie schlecht es mir wirklich geht.“ Das sagt Lisa Schmitt, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, über das erste Mal, als sie sich selbst verletzt hat. Die heute 21-Jährige hat eine Glasscherbe benutzt, um sich Schnitte in ihren Unterarm zu ritzen. Damals war Lisa 17, und der Junge, in den sie verliebt war, hatte gerade den Kontakt zu ihr abgebrochen.

Seinem eigenen Körper absichtlich Verletzungen zufügen — das kann als selbstverletzendes Verhalten (SVV) bezeichnet werden. Betroffen sind hauptsächlich Jugendliche und junge Erwachsene. Liebeskummer, Einsamkeit, Streit mit den Eltern oder Probleme in der Schule können Auslöser dafür sein — eben alles, was emotional verletzt und belastet.

Innere Spannung

„Die Betroffenen verspüren oft eine starke innere Spannung. Um diesen Druck abzulassen, fügen sie sich etwa mit einer Rasierklinge Wunden zu“, erklärt Dr. Holmer Graap, leitender Psychologe in der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Abteilung des Uniklinikums Erlangen. Bei Gefühlen von Leere oder Taubheit diene das Selbstverletzen dazu, sich selbst wieder zu spüren und wahrzunehmen. Glaubt die Person, für etwas verantwortlich zu sein oder einen Fehler gemacht zu haben, kann es auch Mittel zur Selbstbestrafung sein.

Melanie Förster (heute 16), die ihren richtigen Namen auch lieber für sich behält, hat sich das erste Mal mit 13 geritzt. Sie hatte Streit mit ihrer Mutter, dazu kam Stress in der Schule. „Aus irgendeinem Grund griff ich zu einem Reißnagel und kratzte mir immer wieder über die Hand. Einige Tage später in einer ähnlichen Situation griff ich dann zum Taschenmesser“, sagt Melanie. Das Ritzen half ihr: „Es beruhigte mich, wenn ich weinte oder aggressiv war.“

Dieses Verhalten gilt als Symptom für psychische Erkrankungen wie Depressionen, Borderline-Störungen oder Essstörungen, kann aber auch alleine auftreten. Dabei ist das Bild der „Emos“, die sich ständig ritzen, zu einem Klischee geworden. „In solchen Fällen kann das Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit eine Rolle spielen“, erklärt Psychologe Graap. Weniger ernst zu nehmen ist das trotzdem nicht. „Einzelne Jugendliche geraten vielleicht zufällig daran und machen es immer wieder, weil es ihnen danach besser geht.“

„Klar wusste ich, dass es nicht normal war, was ich tat. Aber es gab mir ein gutes Gefühl“, beschreibt Lisa ihr Verhalten. Immer wenn der Liebeskummer richtig schlimm wurde, ritzte sie sich. Sie wollte, dass andere es mitbekamen: „Ich hatte das Gefühl, dass mich keiner so richtig ernst nahm. Liebeskummer sei doch was ganz Normales! Aber wenn ich mich selbst verletzte, verstanden die anderen vielleicht ein bisschen mehr, dass es mir echt schlecht ging.“

Das kann der Psychologe unterstreichen: „Man sagt nicht so einfach zu jemandem: Ich brauche dich, mir geht’s nicht gut. Für Menschen mit selbstverletzendem Verhalten ist es ein Weg zur Kommunikation – ihre Art, um auszudrücken: Schaut her, ich brauche eure Hilfe.“

Freunde wurden sauer

Richtig an kam das aber nicht bei Lisas Freunden, die es zufällig bemerkten. „Die meisten waren erschrocken und wurden sauer. Sie konnten einfach nicht nachvollziehen, wieso ich mir das antat. Wirkliche Hilfe habe ich dadurch nicht bekommen“, sagt sie. Ihren Eltern hat Lisa nie erzählt, dass sie sich selbst verletzt. „Ich glaube, sie hätten das genauso wenig verstanden. Und ich hätte mich vor ihnen geschämt.“

Bei Melanie sind die Schnitte keinem aufgefallen. „Ich tat es etwa fünf Monate lang mindestens zweimal pro Woche. Aber da Winter war, bemerkte niemand die vielen Narben und Schnittwunden“, erzählt sie. „Sogar vor meinen Eltern konnte ich es geheim halten.“ Ihre Mutter hat es später zufällig herausgefunden – und reagierte geschockt.

Bekommen es Familie oder Freunde mit, sollte man in Ruhe darüber sprechen. Wichtig ist, dass ihr herausfindet, welche Probleme hinter dem selbstverletzenden Verhalten stehen, und diese gemeinsam löst. Man sollte auch dann für die Person da sein, wenn sie sich nicht verletzt. So wird ihr klar, dass sie immer Unterstützung und Zuwendung erfährt.

Hilfe von außen holen

Am besten ist es, von außen Hilfe zu holen und sich zusammen an eine Beratungsstelle oder einen Psychotherapeuten zu wenden (hier findet ihr den Kontakt zu ein paar Anlaufstellen). Als Betroffener kann man dann lernen, mit seiner inneren Anspannung umzugehen. „Schlafmangel oder zu wenig Essen können nervlich belastend sein, während Sport Spannung abbauen und die Person stärken kann“, erklärt Graap. Steht man kurz davor, sich zu verletzen, hilft es auch, in eine Chilischote zu beißen oder sich ein Kühlpad auf die Haut zu legen. Denn: „Starke Sinnesreize mindern die innere Spannung.“

Melanie hat es geschafft, mit dem Ritzen aufzuhören: „Ich konnte es mir abgewöhnen, nachdem Eltern, Lehrerin und Freunde mir ins Gewissen geredet haben und vor allem ich selbst es nicht mehr wollte.“ Auch Lisa hat von sich aus einen wichtigen Schritt getan: „Ich habe eingesehen, dass es mir nicht guttut.“ Das letzte Ritzen ist neun Monate her; sie versucht, ihr Leben zu verändern. Versprechen, dass es nie mehr passiert, kann sie aber nicht. Erst vor kurzem gab es einen Moment, in dem Lisa das Bedürfnis hatte, sich selbst zu verletzen. Ablenkung durch Freunde haben sie vor einem Rückfall bewahrt. Sie sagt: „Ich glaube mittlerweile, ich bin es wert, dass es mir besser geht.“


Die Autorin ist 21 Jahre alt und schreibt als freie Mitarbeiterin für die Extra-Seiten.

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