Aus Früchtchen soll kein Dosenobst werden
18.01.2011, 19:00 Uhr
„Früchtchen seid ihr, und Spalierobst müsst ihr werden! Aufgeweckt wart ihr bis heute, und einwecken wird man euch ab morgen! So wie man’s mit uns getan hat. Vom Baum des Lebens in die Konservenfabrik der Zivilisation! Das ist der Weg, der vor euch liegt.“
Das Zitat stammt aus einer Rede Erich Kästners an frisch eingeschulte Erstklässler. Die Kinder damals mögen den Schriftsteller vielleicht nicht so ganz verstanden haben. Aber alle Erwachsenen wissen umso besser, was er gemeint hat.
Prof. Gunther Moll liebt dieses Zitat so sehr, dass er es in viele seiner eigenen Reden einbaut. Moll ist Leiter der Kinder- und Jugendabteilung für Psychische Gesundheit am Uni-Klinikum in Erlangen. In seiner Diktion klingt das Zitat Erich Kästners so: „Schule zwingt zur Passivität und verhindert Lebenserfahrung“.
Molls zentrale These geht sogar noch einen Schritt weiter: „Unsere Gesellschaft geht völlig falsch mit Kindern um.“ Denn Kinder würden überwiegend als „Sparpotenzial, als Verfügungsmasse, als soziales Risiko wahrgenommen – und vor allem als Störfaktor: bei der beruflichen Laufbahn, bei der persönlichen Verwirklichung und bei der Befriedigung materieller Bedürfnisse.“
Das alles, so Moll, sei umso fataler, als „unsere Gesellschaft in den kommenden Jahren jedes einzelne der heutigen Kinder und jeden einzelnen der heutigen Jugendlichen ganz dringend braucht“. Und zwar als „fitte Menschen: motorisch geschickt, emotional stabil, kognitiv kreativ und sozial kompetent“.
Vorbeugung statt Reparatur
Doch die Realität sieht anders aus: Jedes vierte Kind zwischen 0 und 18 Jahren zeigt psychische Auffälligkeiten, die zumindest einer medizinischen Abklärung bedürfen. Und mindestens jedes zehnte Kind gilt als kinderpsychiatrisch behandlungsbedürftig.
Gerade deshalb legt Moll so großen Wert auf das Wort „Gesundheit“ im Namen seiner Abteilung. „Wir wollen kein Reparaturbetrieb für die Fehler anderer sein, sondern präventive Kinderpsychiatrie betreiben.“ Präventiv, das bedeutet laut Moll, „einer ungewünschten Entwicklung zuvorkommend, vorbeugend, verhütend“.
Und diese Prävention muss nach seiner Überzeugung auf mehreren Ebenen ansetzen. Punkt eins: die Eltern. „Iss deinen Teller leer!“, „Solange du die Füße unter meinen Tisch stellst..“, „Nur die Leistung zählt.“ Solche Sätze hält Moll für „erzieherischen Bodensatz, der unbewusst weitervererbt wird. Obwohl längst erwiesen ist, dass er nicht weiterhilft“.
„Die 10 größten Erziehungsirrtümer und wie wir es besser machen können“ lautet deshalb der Titel eines Buches, das Moll zusammen mit Prof. Ralph Dawirs, dem Forschungsleiter einer Abteilung, herausgegeben hat. Darin setzen die beiden Autoren den veralteten Regeln eine moderne, entspannte Erziehung ohne dogmatische Zwänge entgegen.
Ein Beispiel: „Computer sind gefährlich“, meinen und sagen Eltern gerne mal. „Quatsch“, meint und sagt Moll: „So wie wir Kindern richtiges Verhalten im Verkehr beibringen, genauso müssen wir sie den richtigen Umgang mit Computern lehren – damit sie nicht im Cyberspace unter die Räder kommen.“
Eine ganz andere Ebene für präventive Kinderpsychiatrie ist die Ausbildung angehender Ärzte. Nur zwei Stunden Vorlesung über Kinder- und Jugendpsychiatrie sind verpflichtend im gesamten Medizinstudium.
„Das entspricht einem Promille der Ausbildungszeit“, sagt Moll, „und das ist viel zu wenig. Jeder Arzt hat mit Kindern zu tun: als Klinikmediziner, als niedergelassener Facharzt und als Hausarzt, der in die Familien kommt, sowieso. Aber außer ein paar Spezialisten hat keiner gelernt, mit Kindern richtig umzugehen.“
„Die Gesundheit eines Kindes fällt nicht vom Himmel“, sagt Moll, „darum muss man sich kümmern. Die Entscheidung, ob sich ein junger Mensch gesund entwickelt, fällt in den ersten sechs Jahren. Darauf müsste das Studium angehende Ärzte viel besser vorbereiten.“
Und nicht zuletzt geht Moll mit der Gesundheitspolitik in Deutschland hart ins Gericht – die ihren Namen seiner Meinung nach gar nicht verdient. „Gesundheit kostet eigentlich nichts. Aber Krankheiten sind ein gigantischer Markt, an dem viele sehr viel verdienen. Deshalb sind wir im Würgegriff von Politikern, Verbandsfunktionären und Lobbyisten.“
Auch hier ein Beispiel: Die Kinder- und Jugendabteilung für Psychische Gesundheit betreibt in Erlangen zur ambulanten Versorgung von Kindern mit psychischen Störungen eine Ambulanz – zusätzlich zu drei niedergelassenen Praxen für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Erlangen. Zur Zeit stehen über 70 Kinder auf der Warteliste für diese Ambulanz. Die durchschnittliche Wartezeit auf einen ersten Diagnose-Termin beträgt drei bis vier Monate, danach dauert es nochmal die gleiche Zeit, bis ein Behandlungsplatz frei wird.
„Was wäre in unserem Lande los“, fragt Moll, „wenn diese Behandlungssituation zum Beispiel für die Behandlung von Zahnschmerzen bestehen würde? Seine Antwort lautet: „Es gäbe einen Aufschrei, und die erforderlichen Kapazitäten würden sofort geschaffen.“
Krasse Unterversorgung
Anders in der Kinder- und Jugendpsychiatrie: Im gesamten Raum Fürth gibt es nur einen niedergelassenen Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und am Klinikum Fürth eine Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie mit acht Plätzen. „Ich halte die Einrichtung einer Ambulanz, so wie wir sie in Erlangen haben, in Fürth für den nächsten, unbedingt notwendigen Schritt“, sagt Moll.
Doch ein entsprechender Antrag wurde bisher von der Kassenärztlichen Vereinigung abgelehnt. Begründung: Eine Außenstelle der bestehenden Erlanger Ambulanz könne nicht genehmigt werden, wenn sie am Klinikum Fürth angeseidelt ist.
Laut Moll bedeutet das nicht nur eine krasse Unterversorgung, sondern weitaus mehr: „Hier wird das Recht eines jeden Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit missachtet.“ Und um die Situation deutlich zu machen, sucht er noch ein Zitat aus der Rede Erich Kästners an die Erstklässler heraus:
„Das Leben nach der Uhr beginnt, und es wird erst mit dem Leben selber aufhören. Das aus Ziffern und Paragraphen, Rangordnung und Stundenplan eng und enger sich spinnende Netz umgarnt nun auch euch. Seit ihr hier sitzt, gehört ihr zu einer bestimmten Klasse. Noch dazu zur untersten. Der Klassenkampf und die Jahre der Prüfungen stehen bevor.“