Fußball-Nationalmannschaft
Titel futsch: Kimmichs wahre Worte nach dem Wirkungstreffer
05.06.2025, 05:34 Uhr
Tristesse in der Wohlfühloase. Das düstere Grau über dem Homeground in Herzogenaurach am Tag nach dem heftigen Stimmungsdämpfer zum Start ins Final-Four-Turnier der Nations League gegen Portugal bildete die Stimmungslage von Bundestrainer Julian Nagelsmann und den Nationalspielern um Kapitän Joshua Kimmich im so geliebten Quartier ab. „Psychologisch ist es kein Feuerwerk, dass wir jetzt um Platz drei spielen“, stöhnte Nagelsmann mit Blick auf die Trostpreispartie am Sonntag.
Anstatt sich voller Final-Vorfreude als Zuschauer auf den zweiten großen Halbfinal-Abend zwischen Europameister Spanien und Frankreich einstimmen zu können, musste der Wirkungstreffer des verdienten 1:2 (0:0) gegen Siegtorschütze Cristiano Ronaldo und die portugiesischen Zocker mental und inhaltlich verarbeitet werden. Der kleine Nations-League-Titel als Booster für die kommende WM-Saison ist futsch - statt Euphorie und forscher Töne gibt es plötzlich wieder neue Zweifel und Qualitätsdebatten.

Wir müssen jeden am Limit haben
Immerhin: Die kritische Analyse der Protagonisten nach dem aus der Hand gegeben 1:0 nach dem ersten Kopfballtor von Florian Wirtz im DFB-Trikot war besser als das Spiel. Den Chef-Kritiker gab dabei der Kapitän nach seinem frustrierenden 100. Länderspiel. „Wir waren weit weg von dem entfernt, was wir spielen können. Wir haben es nicht geschafft, unsere Energie auf den Platz zu bringen. Man hat nicht gemerkt, dass wir eine Siegermentalität haben, dass wir eine gewisse Gier haben, dass wir ins Finale wollen“, sagte Kimmich.
„Wir müssen verstehen, wenn wir nicht bei 100 Prozent sind, können wir nicht gegen ein Topteam bestehen. Wir müssen jeden Spieler am Limit haben“, mahnte der 30-Jährige. Diese Analyse deckte sich mit Nagelsmanns Erkenntnissen.
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Der Bundestrainer sprach nach der ersten Niederlage seit dem bitteren Viertelfinal-Aus gegen Spanien bei der Heim-EM 2024 von einem „guten Learning“. Und es gefiel ihm, dass die Aufarbeitung noch vor der nächtlichen Busfahrt nach Franken bereits in der Kabine in München begann.
„Die Enttäuschung ist groß, vor allem auch im Mannschaftskreis aufgrund der Leistung. Das ist für mich ein gutes Zeichen. Josh hat ein paar Worte an die Mannschaft gerichtet, in denen sehr viel Wahres steckte“, lobte Nagelsmann. Kimmichs Ansprache hatte auch er aufmerksam gelauscht.
„Es ist gut, wenn das aus der Mannschaft kommt. Ich habe keine große Lust, so draufzuhauen“, sagte der Bundestrainer danach in der Pressekonferenz: „Weil ich weiß, was die Mannschaft gibt und welche Entwicklungsschritte sie gegangen ist in den letzten Monaten. Das rechne ich den Spielern hoch an.“
Substanzverlust durch Ausfälle zu groß
Nagelsmann versammelte selbst nach dem Schlusspfiff seinen Trainerstab noch auf dem Rasen zur ersten Spontananalyse. Was war schiefgelaufen? Einiges. Eine Erkenntnis des Spiels gegen den Weltranglisten-Siebten lautet: Das von Nagelsmann wachgeküsste DFB-Team ist in der Breite nicht so stark bestückt, dass große Ausfälle (Musiala, Rüdiger, Havertz, Kleindienst, Schlotterbeck, Stiller) ohne Qualitätsverlust aufgefangen werden können.
„Wichtig ist, dass so viele Spieler wie möglich gesund sind, damit sich eine gewisse Achse, eine Stammelf herauskristallisieren kann“, befand Kimmich. Nagelsmann war aber auch enttäuscht von etlichen Spielern, die in die Bresche springen sollten, wobei er nicht auf Neuling Nick Woltemade abzielte.
Der 23 Jahre alte Stuttgarter sollte nach einem laut Nagelsmann „ordentlichen“ Länderspieldebüt und dem verpassten Finaleinzug verabredungsgemäß früher zur U21-Auswahl gehen, war am Donnerstag aber erstmal weiter beim A-Team.
Fataler Dreifachwechsel
Nagelsmann vermisste die „Galligkeit“ auf dem Platz. „Der Schlüssel ist schon, dass wir 100 Prozent geben müssen. Dann können wir mit fußballerischen Topnationen mithalten. Wir brauchen alle bei 100 Prozent, die auf dem Platz stehen, und auch die, die reinkommen.“
Damit sprach der 37-Jährige ein Thema an, dass auch ihn selbst betraf. Die über 60.000 Fans im Stadion und die fast zehn Millionen ZDF-Zuschauer hatten auch gesehen, welcher Trainer mit seinem Dreifachwechsel beim Stand von 1:0 für Deutschland Positives bewirkte. „Hinterher ist man immer schlauer“, sagte der Bundestrainer zerknirscht: „Die Dynamik ist komplett gekippt im Spiel.“

Muss es jedes Mal ein Dreifach-Wechsel sein, noch dazu in Führung liegend? Beim 3:3-Spektakel gegen Italien im Viertelfinal-Rückspiel im März führte die DFB-Elf mit 3:1, als drei Nagelsmann-Wechsel auf einen Schlag zum Bruch führten. „Es ist auch mein Job, Leistung zu bewerten. Und es ist ein Teil des Anforderungsprofils meines Berufs, auch Wechsel vorzunehmen. Wir wollten ein bisschen Energieträger einwechseln“, erklärte Nagelsmann die Hereinnahme von Niclas Füllkrug, Robin Gosens und Serge Gnabry.
Portugals Zocker von der Bank
Fakt ist: Portugal-Coach Roberto Martínez, der nach dem 0:1 etwas ändern musste, lag besser. Er konnte aber auch Top-Qualität von der Bank bringen. So argumentierte auch Nagelsmann: „Man kann darüber diskutieren, ob der Bruch zustande kam, weil Portugal die drei Spieler eingewechselt hat. Zwei davon waren maßgeblich beteiligt, dass sie mehr Ballbesitz hatten. Vitinha hatte schon sehr viel Einfluss aufs Spiel. Und Conceicao hat ein Tor gemacht und war schwer zu verteidigen.“ Gosens dagegen war als Gegenspieler überfordert.

Francisco Conceição und der große Ronaldo wendeten für Portugal binnen fünf Minuten die Partie. Als deutscher Kollateralschaden kommt hinzu, dass die Chancen der DFB-Auswahl auf einen Platz im besten Lostopf für die Gruppenauslosung für die WM-Endrunde 2026 rapide gesunken sind. Schon in der Vorrunde droht ein Topgegner wie Argentinien, Spanien oder Frankreich.
Plakative Ansage zum Spiel um Platz drei
Das ist freilich noch weit weg. Kurzfristig geht es darum, die Saison und das Nations-League-Finalturnier am Sonntag in Stuttgart (15.00 Uhr/RTL und DAZN) anständig abzuschließen. „Mir geht es weniger um den Platz drei“, sagte Nagelsmann: „Ich sage es mal plakativ: Ich will lieber ein Topspiel sehen und wir werden Vierter - als ein schlechtes Spiel und wir werden Dritter. Weil wir Spiele nutzen müssen, um uns zu verbessern.“
Kimmich, der in seinem Jubiläumsspiel in München mit seinem ältesten Sohn an der Hand eingelaufen war, formulierte ebenfalls deutlich seine Erwartungshaltung. „Es geht darum, nochmal ein gutes Gefühl zu bekommen und nochmal nach einer sehr schwachen Leistung ein europäisches Topteam zu schlagen.“
„Müssen jeden am Limit haben“
Man müsse daraus „Lehren“ ziehen, mahnte der Anführer: „Wir müssen verstehen, wenn wir nicht bei 100 Prozent sind, können wir nicht gegen ein Topteam bestehen. Wir müssen jeden Spieler am Limit haben.“ Das war gegen Portugal absolut nicht der Fall. Zudem fehlten zu viele Topspieler verletzt.
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„100 Länderspiele für Deutschland ist für mich schon etwas sehr Besonderes“, sagte Kimmich trotzdem zu seiner Jubiläums-Partie daheim in der Münchner Arena. Er bereitete mit einem feinen Chip-Ball immerhin auch das Kopfballtor von Florian Wirtz zum 1:0 vor. Danach kam aber ein totaler Bruch ins Team.
Nagelsmann: „Verdient nicht im Finale“
Auch Bundestrainer Julian Nagelsmann sprach von einer „großen Enttäuschung“ und teilte die Einschätzungen von Kimmich. Dieser habe auch in der Kabine nach dem Spiel vor der Mannschaft „ein paar wahre Worte“ gesagt.
„Wir sind verdient nicht im Finale“, sagte der Bundestrainer. „Der Schlüssel ist schon, dass wir 100 Prozent geben müssen. Dann können wir mit Topteams mithalten. Wir haben nicht die Galligkeit gehabt wie in den letzten Spielen.“
Statt um den Titel spielt die DFB-Auswahl nun an diesem Sonntag (15.00 Uhr) in Stuttgart nur um Platz drei gegen Spanien oder Frankreich. Vom Kapitän gab es noch vor der nächtlichen Rückfahrt ins Quartier in Herzogenaurach eine klare Ansage für das letzte Länderspiel der Saison: „Da können wir eine Reaktion zeigen.“