Der Kojote und der Provokateur

12.5.2021, 19:14 Uhr
Der Kojote und der Provokateur

 Mit Avantgardisten ist das so eine Sache. Erst krempeln sie die tradierte Ästhetik um, Kollegen und Kritiker raufen sich die Haare, das Publikum zuckt mit den Achseln, und eine lautstarke Clique propagiert die Revolution. Nach Jahrzehnten wird die Sache akzeptiert, spätestens zum 100. Geburtstag ist der Künstler entweder vergessen - oder er steht hoch auf dem Sockel der Verehrung.

Pablo Picasso, Salvador Dalì, Max Ernst und Andy Warhol zählen zu den Säulenheiligen des 20. Jahrhunderts, jedem ernsthaftem Einwand entrückt. Und Joseph Beuys? Der ewige Provokateur mit Hut, der am Mittwoch 100 Jahre alt geworden wäre, sorgt noch immer für Zündstoff, Kopfschütteln und heiße Debatten.

Auf einem Sockel kann man sich Beuys bei bestem Willen nicht vorstellen. Eher auf einer Schub- oder Sackkarre. Objektiv betrachtet gilt der Krefelder mit seinen Installationen aus Fett, Filz, Mull, Totenbahren und Zubehör aus dem Klinik-Keller als Begründer der Disziplin "Ist das Kunst oder gehört das weg?" Seine Anhänger preisen ihn als einen, der die Definition, was Kunst sei, erheblich erweitert habe. Seine Verächter halten ihn für maßlos überschätzt. Kalt lässt er noch heute keinen.

Statt mit einem Denkmal zollt ihm die Fürther Künstlerin Corinna Smok nun mit einer kleinen Arbeit Tribut: "Tribute to little John" heißt das Werk, das nicht etwa in einer Galerie dargeboten wird, sondern auf offener Straße. Nämlich in den Schaufenstern der Stern-Apotheke in der Mathildenstraße.

Zu sehen sind zwölf großformatige Blätter, jedes zusammengefügt aus sechs Seiten des Düsseldorfer Telefonbuchs, Abteilung Gelbe Seiten. Jedes Blatt ist in wilder Manier mit schwarzen Kohlezeichnungen auf weißem Grund geziert sowie roten Kreuzen in unterschiedlicher Größe und Anordnung. Die Zeichnungen zeigen bandagierte Körper und Körperteile. Dazwischen tummelt sich ein Wolf, einzeln oder im Rudel. Unter den kreideweißen Übermalungen schimmern immer noch Einträge des Telefonbuchs durch. Zu lesen sind Informationen wie "Ich geb’ mir die Kugel" oder "Urlaubsreif?" und am besten: "Psychotherapie".

Fett und Filz

Nun hat Beuys seine Kunst auch als therapeutische Maßnahme begriffen. Angefangen mit der Legende um seinen Abschuss über Feindesland und die Pflege durch mitleidige Nomaden mittels Fett und Filz, über seinen Sturmlauf gegen den kleinbürgerlichen Geschmack, der deutsche Wohnzimmer in ästhetische Schreckenskammern verwandle, bis hin zur Einschmelzung einer Nachbildung der Zarenkrone Iwans des Schrecklichen und deren Umguss zum "Friedenshasen" stand das kollektive Trauma des Kriegserlebnisses im Zentrum seiner Kunst.

Smok, mehrfach Teilnehmerin am NN-Kunstpreis und Mitglied des Kulturrings C, nimmt mit ihrer Arbeit Bezug auf eine Ausstellung, die Beuys durch die Art seiner Präsentation zum Kunstwerk eigener Art erhob. 1974 zeigte er einige Werke in einer New Yorker Galerie. Weil er den USA abhold war, flog Beuys zwar mit, ließ sich aber im Flugzeug in Filzdecken wickeln, mit der Ambulanz zur Galerie fahren und verbrachte dort drei Tage in Christo-mäßiger Verhüllung mit einem Kojoten, ein den Indianern besonders heiliges Tier.

Der wilde Kojote namens Little John musste sich mit dem Künstler arrangieren. Das Wunder gelang: Mensch und Tier fandenin Harmonie zueinander. Diese Kernthemen der Beuys’schen Kunst - Wunde, Leid, Kokon, Heilung, Zuwendung - fasst Smok in ihrer Arbeit zusammen. Das Schaufenster der Apotheke mit den roten Kreuzen bildet das Sahnehäubchen ihrer Präsentation. Was reizt sie an Beuys so besonders? "Er hat sich unglaubliche Dinge getraut und diese auch verwirklicht!" Überzeugt denn jede Provokation, sobald man sie zur Kunst deklariert? Smok relativiert: "Durch Beuys haben sich Felder aufgetan, die ein wenig ausgeufert sind. Aber die Verantwortung dafür, was Kunst sei, teilen dann auch der Rezipient und der Kunstmarkt."

Über seine Nachwirkung macht sie sich keine Sorgen: "Beuys ist immer noch aktuell. Und gute Kunst ist zeitlos."

Stern-Apotheke Fürth/Schaufenster, Mathildenstraße 28, Tel. 770235: Corinna Smok, „Tribute to Little John“, Zeichnungen zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys, bis 16. Mai.

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