Ehemalige "Windsbacher" probten in Gunzenhausen

7.11.2016, 18:01 Uhr

Doch hin und wieder schiebt sich das Kratzen von Trolleyrädern auf Asphalt den Hang hoch, ein Mann samt Gepäckstück erscheint im Blickfeld, betritt zielstrebig ein Gebäude des Diakonissen-Mutterhauses und steigt ins erste Stockwerk hinauf. Bei Schwester Beate Schäfer, welche die auskunftsfreudige Rezeptionsdame gibt, wird eingecheckt. Nach und nach trudeln so immer mehr Herren ein, sammeln sich in gesprächigen Grüppchen vor der Cafeteria, Gelächter hallt durch die Gänge.

Es ist geballte Leidenschaft, die all die Männer hierher geführt hat. Leidenschaft für die Musik, für das Singen in einem Männerchor, für ihren damaligen Chorleiter Karl-Friedrich Beringer. Aus ganz Deutschland und darüber hinaus sind einstige Windsbacher Knaben zu einem Mammutprojekt auf die Gunzenhäuser Hensoltshöhe gepilgert, um nahtlos dort weiterzumachen, wo sie vor fünf, 25, 50 Jahren aufgehört haben. Ihr Probenmarathon mit geistlichen Liedern zieht sich über ein langes Wochenende, umfasst den Reformationstag und Allerheiligen und wird von sphärischen Kirchenkonzerten in Waldsassen, Herrieden und Kitzingen gekrönt.

In der Cafeteria herrschen derweil Zustände wie im „Kasten“, wie das Windsbacher Studienheim bei Bewohnern und Absolventen heißt. Das Abendbrot in der Schulmensa kann gar nicht gemeinschaftlicher und launiger gewesen sein als diese Vesper, dabei kennen sich viele der anwesenden Männer nicht einmal. Manche sind über 70 und haben noch unter Hans Thamm gesungen, der den Chor 1946 aus der Taufe hob, andere mit Anfang 20 sind bereits Ex-Eleven des gegenwärtigen Dirigenten Martin Lehmann, der das Ruder 2012 übernommen hat.

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Wechselnde Besetzung

Um dieser Zeiten zu gedenken und sich untereinander zu vernetzen, haben sich am 5. Mai 2005 viele ehemalige und einige aktive Windsbacher in einem Verein mit dem hübschen Namen „Monte Soprano“ zusammengetan, benannt nach der höchsten Erhebung auf dem Internatsterrain. Wenn ein Teil der mittlerweile über 300 Vereinsmitglieder sich trifft, um so wie jetzt erneut gemeinsam zu musizieren, dann stets in wechselnder Besetzung.

Deshalb sitzen auf der einen Seite einander wildfremde Jahrgänge an den Tischen, andererseits Sänger, die sich Anfang Oktober bei einem fulminanten Auftritt auf der „Höh“ wenigstens schon einmal begegnet sind. Und nicht zu vergessen Männer wie Benjamin Myrus aus München, Alexander Hilgarth aus der Nähe von Forchheim und Christoph Schäfer aus Berlin, die 1993 ihr Abitur machten und beim Essen Schulbubenwitze reißen, als hätte ihre zusammen verbrachte Jugend nie und nimmer vor 23 Jahren geendet. Die drei sind, wie eigentlich alle Angereisten, mindestens im Nebenberuf der Musik treu geblieben. „Aber es gibt nichts, was so gut ist wie dies hier“, erzählt Vereinsmitbegründer Myrus, während seine Freunde bestätigend nicken.

In diesem Moment kommt „er“ herein, und es geht ein Raunen durch die Kantine. Er, das ist Karl-Friedrich Beringer, der die Geschicke des Knabenchors von 1978 bis 2011 in die Hand nahm und ihm zu Weltruhm verhalf. Er, der so etwas wie eine lebende Legende ist und mit knapp 70 den wohlverdienten Ruhestand genießen könnte, stattdessen jedoch gerade von Tischreihe zu Tischreihe schlendert und mit Umarmungen seine alten Schüler entspannt begrüßt. Sein von Schäfer, Hilgarth, Myrus und all den anderen gepriesenes Charisma ist fast physisch greifbar, die gletschereisblauen Augen funkeln vor Tatendrang. Seit ihn „seine Jungs“ am 7. Januar 2012, seinem 64. Geburtstag, zum Start ins Rentnerdasein vor rund 700 Gästen in der Heilsbronner Hohenzollernhalle überraschten, wurde die sich anbahnende Kooperation mit „Monte Soprano“ kontinuierlich ausgestaltet.

Behördliche Scharmützel

Kurz darauf folgt gemäß extrem eng getaktetem Terminplan auch schon das Einsingen. Über 50 Tenor- und Bass-Sänger positionieren sich dazu auf den rotgepolsterten Stühlen des Bethelsaals. Noch ist das Ensemble damit nicht vollzählig, denn mehr als 70 Stimmkünstler haben sich zu dem Wochenende angemeldet, weiß Elmar Stollberger, der 1. Vorsitzende des Vereins. Auf die Hensoltshöhe und zur kleinen bayerischen Gotteshaustour wurde allerdings auf die Schnelle geladen, nachdem ein ursprünglich angedachter Konzerttrip in den Oman wegen behördlicher Scharmützel leider ausfallen musste. Deshalb wurde der Freitag, an dem normalerweise der Flieger gestartet wäre, recht kurzfristig zum Probentag erklärt und schlagen einige der Clubmitglieder erst am nächsten Morgen in Gunzenhausen auf.

Trotzdem, selbst mit unvollständiger Besetzung erschallt er, der originale „Windsbacher-Ton“. Maßgeblich dafür verantwortlich ist natürlich Beringer, der die von ihm ausgewählten Lieder nach wie vor auf ihre winzigsten Bestandteile herunterbricht – sei es zum Beispiel das helle „e“ in dem Wort „Halleluja“, das um Himmels Willen ja kein fränkisch gefärbter Schwa-Laut sein soll – und sie nach dem Wiederzusammenfügen in reinster Kraft und Schönheit, wie eine akustische Kathedrale, erstrahlen lässt. Rastlos hüpft er zwischen Flügelklavier und Podest hin und her, malt dynamische Figuren in die Luft und fordert alles, was stimmlich möglich ist: „Der Bass muss klingen wie ein Kuschelbett!“

Schmunzelnd über seine humorvollen Bemerkungen, motiviert und diszipliniert arbeiten die Männer mit. Sie sind keine zaghaften Fünftklässler oder Halbstarken mehr, die ihr Mentor einst nicht bloß musikalisch, sondern zugleich pädagogisch formte; wo nötig, mit einer gewissen Härte, um das Nonplusultra aus ihnen herauszukitzeln. Nein, entschlossen sind sie als Erwachsene zu ihm zurückgekehrt, opfern Freizeit und Geld, um sich wie damals in Präzision und Perfektion zu üben.

„Es gibt keinen besseren Chordirigenten als Karl-Friedrich Beringer“, betont in einer kurzen Verschnaufpause Jürgen Herrmann, geboren 1936 und über die Jahre sorgfältiger Beobachter von Thamm, Lehmann und Leipziger Thomanern. Kompromisslos sei der Meister zwar, doch hänge er ebenso an seinen Sängern wie sie an ihm. Beringers Passion und Professionalität steckte sie alle irgendwann an, ob Peter Jank, einen waschechten Gunzenhäuser mit Wohnsitz in Nürnberg, oder Wolf Eckhard Miethke aus Lörrach, der bis heute davon schwärmt, wie er einmal gemeinsam mit Bruder und Vater vor dem berühmten künstlerischen Leiter auftreten durfte.

Überirdische Melodien

Inzwischen vibrieren wieder überirdische Melodien durch den Saal. Freilich, was sich für in diese Werkstube hineinlauschende Laien makellos anhören mag, ist es für Beringer noch lange nicht. Er wünscht sich kein „Brüllando“, denn der spätere Sound in den Kirchenschiffen soll „festlich, aber nicht brutal“ werden, und überhaupt „ist die Wirkung eines dreifachen Fortes nur dann gigantisch, wenn man auch extremes Piano singen kann“.

Der „Monte Soprano“-Chor kann es. Die Weichen dahinter stellt der Treuchtlinger Musiker, Komponist und Dirigent Klaus Bucka, Jahrgang 1968, der bereits als Grundschüler Windsbacher Chorknabe wurde und mittlerweile Beringers persönlicher Arrangeur ist. Manche Stücke, wie Anton Bruckners Motette „Os justi“ etwa, sind nämlich gar nicht für Männerchöre geschrieben worden – Bucka muss sie Note für Note neu setzen. Als „spannendes Unterfangen“ bezeichnet er das, und weil die daraus resultierenden Aufführungen so exklusiv sind, werden sie mitgeschnitten, um sie Beteiligten wie Publikum in ihrer Einzigartigkeit zu erhalten.

Intensiv werden alle Lieder, die inhaltlich schweren und oft unbekannteren Psalmen und Motetten von Bach, Mozart, Schubert, Mendelssohn Bartholdy oder dem heuer verstorbenen Windsbacher „Hauskomponisten“ Helmut Duffe, einstudiert. Dennoch bleiben pro Werk vielleicht 30 Minuten, und das, obwohl das Wochenende im Prinzip kaum aus etwas anderem besteht als aus einem steten Wechsel von Proben und Mahlzeiten. Zusätzliche Pfunde dürfte sich allerdings keiner mit nach Hause nehmen, da das Mitwirken in diesem hochkarätigen Vokalensemble laut Miethke durchaus mit Hochleistungssport zu vergleichen ist.

Ein letztes Mal die Rumpfmuskeln anspannen – Beringer richtet den Appell an „die, die bis dato keine Bandscheibenschäden haben“ – und alles geben, schnell einige organisatorische Hinweise von Stollberger erfassen, dann ist der erste sportliche Trainingstag vorbei, und die Herren streben gutgelaunt aus dem Bethelsaal. Sie brennen auf die bisher relativ seltenen Konzerte des Vereins, die jeweils vor Besuchern schier überquellen. Sobald alle zurück daheim sind, wird sie das aktuelle Projekt, wie die „Wiederholungstäter“ schildern, noch viele Wochen verfolgen: als süße Erinnerung, welche die Mühen der Anreise und des Probenmarathons absolut gelohnt hat.

Draußen hat sich indessen sanft die Dunkelheit über das Gelände gelegt. Aus der hermetisch-sakralen Atmosphäre auf dem Hügel geht es hinab in die profane Stadt, wo die Kneipen und Bars eine ganz normale Freitagnacht einläuten. Menschen sieht man hier viele. Manche unter ihnen sind begnadete Sänger.