17. Oktober 1970: Künstler der Zeitenwende

17.10.2020, 07:00 Uhr
17. Oktober 1970: Künstler der Zeitenwende

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Die Frage ist aber: wie umfassend wird dieses Bild sein können bei den enormen Schwierigkeiten, wichtige Werke aus den Museen der Welt als Leihgaben nach Nürnberg zu bekommen?

Diese Ausstellung kann nicht auf Vollständigkeit abzielen, sie muß also in der erzwungenen Beschränkung Schwerpunkte herausarbeiten, so daß trotz aller Lücken der Künstler Albrecht Dürer noch immer in gültiger Form repräsentiert erscheint. – Wir sprachen mit Direktor Dr. Peter Strieder über die Möglichkeiten und die Konzeption dieser Dürer-Ausstellung, die von ihm vorbereitet wird.

Herr Strieder, das Dürer-Jahr ist bereits lange vor seinem Beginn von vielen Seiten kritisch beleuchtet worden. Das Ereignis, das in seiner Seriosität über alle grundsätzlichen Zweifel erhaben ist, wird die von Ihnen geleitete und organisierte große Dürer-Ausstellung im Germanischen Nationaniuseum sein. Daß hier kein lückenloses Bild des Dürerschen Werkes möglich sein wird, ist seit langem in der Öffentlichkeit bekannt. Die Frage ist: wie umfassend wird es dennoch sein können?

Strieder: Umfassend muß ja nicht bedeuten, daß hier auf eine Vollständigkeit abgezielt wird, die von vornherein unmöglich war. So wie nach Bismarck die Politik die Kunst des Möglichen ist, so mußte auch die Ausstellungspolitik bei dieser Präsentation des Dürer-Werkes von dem ausgehen, was möglich ist und was zu erreichen möglich war. Jedermann kennt seit langem unsere Bemühungen etwa um die Münchner „Vier Apostel“, deren konservatorisch begründete Ablehnung von seiten der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen wir anerkennen mußten. Als Museumsmann weiß man um die Verantwortung gegenüber derart gefährdeten Werken. Die Geschichte ist längst bekannt, und ich führe sie nur noch einmal an, weil sie das berühmte Beispiel für die Grenze des Möglichen ist.

Aber konservatorische Aspekte werden es nicht allein sein, die Leihgaben unmöglich machen.

Strieder: Oft erweisen sich eben die politischen Grenzen als ebenso schwer überwindbare Hindernisse. Zum Beispiel die Werke der Florentiner Uffizien: wir haben seit langem die Zustimmung der Museumsdirektion, aber wir warten ebenso lange auf das Plazet der Regierung in Rom. Natürlich sind das wichtige Werke, das Bildnis des Vaters von 1490, die „Anbetung der Heiligen Drei Könige“, die Apostel Jakobus und Philippus von 1516 und die Maria mit Kind von 1526. Wir hoffen hier noch immer, aber die Schwierigkeiten scheinen durch Unstimmigkeiten – die mit unserer Ausstellung nichts zu tun haben – bei der zuständigen Kommission noch intensiviert zu sein. Größer sind unsere Hoffnungen dagegen bei dem Madrider Selbstbildnis von 1498, das dann – wenn es kommt – zu einem Kernstück der Ausstellung wird. Daß die großen Tafeln von Adam und Eva nicht kommen werden, hat wiederum konservatorische Gründe: Bilder dieser Größe (sie sind über zwei Meter hoch) lassen sich auch mit den modernsten Transportmethoden nicht ohne wirkliche Gefährdung über solche Entfernungen bringen.

Mit der Eva hat ja die Werbung gearbeitet. Wie steht es mit dem noch berühmteren Hasen-Aquarell in der Wiener Albertina, das von der Werbung ja auch stark herausgestellt wurde?

Strieder: Darauf werden wir auch verzichten müssen.

Dann werden, also zwei Werke, die von den Public-Relation-Leuten groß herausgestellt wurden, nicht im Original in Nürnberg zu sehen sein.

Strieder: Man hätte mich da eben fragen sollen.

Herr Strieder, ich will hier nicht auf Details dringen und nicht immer fragen, was nicht kommen kann und warum es nicht kommen wird. Auf der anderen Seite bedeutet ja die jüngste Zusage ans München für den Paumgartner-Altar wieder enormen Auftrieb. Aber sprechen wir von der Konzeption dieser Ausstellung. Wie wird sie aufgebaut, um dem Besucher in möglichst sinnvoller Form den Zugang zum Werk Dürers möglich zu machen?

Strieder: Ausstellungen alten Stils, die ein Werk möglichst umfassend aber ohne besondere Konzeption präsentierten, sind genau das, was wir nicht wollten. Diese Dürer-Ausstellung ist nicht für den Besucher, der hereinkommt und sagt: Aha, die „Vier Apostel“ und „Adam“ und „Eva“ sind nicht da – na, gehe ich wieder. Diese Werke kann heute ja eine viel breitere Schicht sehen, als das früher geschah, wo dergleichen bemittelten Bildungsreisenden vorbehalten war. Im übertragenen Sinn ist unsere Konzeption konzentrisch: der Besucher wird in den ersten Räumen an die Persönlichkeit herangeführt. Der erste Raum gilt der Umwelt Dürers und der Kunst seiner Zeit, die Reisen werden dokumentarisch belegt, seine Familie wird im Bild vorgestellt, wir demonstrieren seine Begegnungen innerhalb der Reichsstadt, seine Konfrontation mit Martin Schongauer und dem „Meister des Hausbuchs“, seine Begegnungen mit Basel und Straßburg, Italien und den Niederlanden. Dann Dürers Umwelt im Detail: der Humanismus seiner Zeit, die neuen mathematischen Vorstellungen, das Weltbild der Epoche, die spätmittelalterliche Frömmigkeit und die Reformationsbewegung, die sozialen Ideen, die Endzeiterwartung. Dann erst wird der Besucher mit dem Werk selbst konfrontiert.

Auch da werden Sie wieder eine bestimmte Aufgliederung haben.

Strieder: Um Dürer als eine Erscheinung der Zeitenwende herausstellen zu können, als komplexe Künstlerpersönlichkeit zwischen spätem Mittelalter und heraufziehender Neuzeit, stellen wir bewußt das heraus, was sich in ihm vollzieht, wofür Dürer eines der großen Beispiele ist: Kunst im Umbruch, die Neuansätze. Wichtig ist da zum Beispiel Dürers Neukonzeption der menschlichen Figur, Gestaltung nach der Natur und nach dem Konstruktionsmodell. Wichtig ist ferner die Entdeckung des Individuums, die Rezeption der Antike, die Entdeckung der vielgestaltigen Natur, die nicht mehr – wie in der alten Kunst – der Bildidee, dem ikonographischen Thema weitgehend untergeordnet wird, die hier bereits Selbständigkeit und Freiheit gewinnt. Das alles sind bekannte Dinge, aber den ungeheueren Prozeß dieser Epoche bildlich vor Augen zu führen, an dem großartigen Beispiel Dürer vor Augen zu führen, das ist der Sinn dieser Ausstellung.

So kommt natürlich der Grafik eine besondere Bedeutung in dieser Ausstellung zu, denn gerade mit den grafischen Blättern läßt sich das belegen. Die Zusage für manches Blatt, das unter diesem Aspekt wichtig ist, tröstet mich somit über viele Absagen zu berühmten Werken hinweg. Das bedeutet nicht, daß wir uns in den letzten sieben Monaten bis zum Mai 1971 nicht weiter um Werke bemühen werden. Ich bin im übrigen überzeugt, daß trotz der Lücken, die diese Ausstellung unter dem Blickwinkel der Vollständigkeit haben wird, dies überhaupt die letzte große Ausstellung alter Kunst in diesem Umfang sein wird. Das sollte man sich vor Augen halten, und so scheint es mir trotz aller Absagen noch immer eine beachtliche Ausstellung zu werden, die sechshundert bis siebenhundert Katalognummern umfassen wird – wobei jeder Zyklus als eine Nummer gilt –, die von etwa siebzig erhaltenen Gemälden 32, von insgesamt 950 Handzeichnungen etwa 200 enthalten wird und die 300 Blätter Druckgrafik vollständig bringt.

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