Mordprozess um Sophia: Anklage fordert lebenslange Haft

10.9.2019, 20:57 Uhr
Die Staatsanwaltschaft, der Anwalt der Eltern, der Bruder Sophias und der Verteidiger des angeklagten Fernfahrers werden heute vor dem Landgericht Bayreuth ihre Plädoyers halten.

© Daniel Karmann, dpa Die Staatsanwaltschaft, der Anwalt der Eltern, der Bruder Sophias und der Verteidiger des angeklagten Fernfahrers werden heute vor dem Landgericht Bayreuth ihre Plädoyers halten.

Sophia Lösche wurde zuletzt am 14. Juni 2018 um 18.20 Uhr an der Aral-Tankstelle in Schkeuditz bei Leipzig gesehen, als sie in einen blauen Lastwagen stieg – ein Jahr später, am 23. Juli 2019, gestand der Lkw-Fahrer Boujemaa L. (42), dass er Sophia mit einem Mutternschlüssel den Schädel zertrümmert hat.

Seit Wochen läuft im Landgericht Bayreuth die Beweisaufnahme, doch die Familie Lösche sucht noch immer nach Antworten: Die Wahrheit, davon sind Sophias Eltern und ihr Bruder überzeugt, habe der Angeklagte nicht gesagt. "Warum haben Sie dieses Entsetzliche nur getan? Ihre Aussagen sind voller Widersprüche. Wie haben Sie es fertiggebracht, das Führerhaus in Ihrem Lkw von Sophias Blut zu säubern? Wie schafften Sie es, ihren Leichnam zu verstauen und wo haben Sie ihre Kleidung entsorgt?" All diese Fragen trägt Sophias Vater im Saal vor.

Wo starb Sophia?

"Fragen über Fragen" habe seine Familie, so Johannes Lösche – er war als evangelischer Pfarrer tätig, der kurzen Rede ist dies anzumerken. Seine Stimme ist weich, seine Überzeugung ist stark: "Wir tun uns den Strafprozess nicht an, damit Hass und Rache in uns wachsen. Uns macht es krank, die Wahrheit nicht zu erfahren", sagt er. Zitternd hielt Andreas Lösche im Gerichtssaal ein Foto seiner Schwester Sophia hoch: "Wie schön sie ist. Schauen Sie her!", fordert er den Angeklagten auf, bis auch er eine kleine Rede hält: Er hat keinen Zweifel, dass der Angeklagte sexuell übergriffig wurde. Seine größte Sorge: Dass Sophia nicht in Deutschland getötet wurde - sondern von dem Lastwagenfahrer erst durch halb Europa gekarrt wurde. Lag sie stundenlang im Lastwagen? Andreas Lösche fürchtet, dass seine Schwester erst in Frankreich starb.

Das Strafverfahren konnte nicht alle Fragen beantworten. Elf Tage hat die Schwurgerichtskammer verhandelt, um das Verbrechen zu rekonstruieren, dessen Blutspur von Deutschland über Frankreich bis Spanien führt. Ein Psychiater beschrieb, wie erbärmlich Boujemaa L. in Marokko bei den Großeltern aufwuchs, ohne Geld und ohne Liebe, und wie er, der sich als Kind ungewollt fühlte, als Erwachsener immer wieder über die Maßen aggressiv reagiert, wenn er sich gekränkt fühlt. Sophia Lösche, eine hübsche 28-Jährige – sie stach Boujemaa L. am 14. Juni 2018 an jener Tankstelle bei Leipzig sofort ins Auge. "Er fotografierte sie erst heimlich mit seinem Handy, dann bot er ihr an, mitzufahren", so Oberstaatsanwältin Sandra Staate, sie belegt dies mit Daten aus L.s Handy. Die Fahrt im Lkw ging launig los, L. stellte sich als "Bob" vor, zeigte Sophia Fotos von seinen vier Kindern.

Von der dunklen Seite des netten "Bob" ahnte Sophia nichts: Er fotografierte häufig und heimlich fremde Frauen auf Raststätten, er pflegte eine Affäre und seine Ehefrau in Marokko schlug er immer wieder. Doch er nahm sich als Fernfahrer für die Europa-Strecke als erfolgreichen Mann wahr – von seiner Familie forderte er Dankbarkeit.

Sexuelles Abenteuer als Dank?

Erwartete er auch von Sophia eine Gegenleistung? Eine Überwachungskamera an einer Autobahn-Raststätte hielt fest, dass Boujemaa L. seinem Fahrgast um 19.48 Uhr einen Espresso spendierte. Verlangte er, dass sie sich mit einem sexuellen Abenteuer revanchierte? Spätestens am Rastplatz Sperbes, nahe Plech, endete gegen 23.48 Uhr die Harmonie: L. überprüfte angeblich die Radmuttern als er sah, wie Sophia in seinen Sachen wühlte. "No touch" ("nicht anfassen") will er gesagt haben, er forderte "respect" ("Respekt") – und als sie ihm eine Ohrfeige verpasste, erschlug er sie im Streit. Die Ratsche lag in der Nähe.

L. hat zum Prozessauftakt ausführlich geschildert, wie er anschließend die Fahrerkabine verließ, ein WC aufsuchte und eine Zigarette rauchte, um sich zu beruhigen. Als er zurückkehrte, habe Sophia einen Arm nach ihm ausgestreckt. E schlug erneut zu. Überall sei Blut gewesen. Auch die Staatsanwältin hat eine Vorstellung davon, was passiert ist: "No touch" und "respect" hält sie allerdings für Sophias Worte – und zwar als diese die Annäherungsversuche zurückwies. Als sie L. eine Ohrfeige verpasste, war dies eine narzisstische Kränkung, die L. in Wut versetzte. Er fühlte sich in seiner Ehre als Mann beleidigt und schlug ihr die Ratsche auf den Kopf.

Nach dem ersten Schlag lebte die junge Frau noch

Die Anklägerin wertet dies als gefährliche Körperverletzung – denn zu diesem Zeitpunkt habe Sophia Lösche noch gelebt. L. hätte Hilfe holen können – doch er dachte nur an sich. Als er nach seiner Raucherpause sah, dass Sophia Lösche noch lebte, wollte er seine Tat verschleiern und schlug erneut mit der Ratsche auf die Frau ein: Ein Mord, um seine vorherige Straftat zu verdecken.

Sophias Leichnam wurde am 21. Juni 2018 in einem Gebüsch nahe einer Tankstelle in Vitoria-Gasteinz im spanischen Baskenland gefunden. L. hatte die tote Frau teilweise mit Benzin übergossen und angezündet. Auch den Lkw ließ er unterwegs stehen. Ob er ihn in Brand steckte, um die Spuren zu vernichten, ist nicht eindeutig nachweisbar. Die Anklägerin zweifelt an der behaupteten Affekttat des L., doch sie glaubt seinem Geständnis – der Strafverteidiger zweifelt dagegen am Geständnis des eigenen Mandanten.

Wie kann es zu einer solch ungewöhnliche Situation kommen? Dass der Angeklagte Sophia Lösche getötet hat, erklärte Verteidiger Karsten Schieseck bereits zu Prozessbeginn. L. sei in einen emotionalen Ausnahmezustand geraten – der Anwalt will dies rechtlich nicht als Mord (lebenslange Freiheitsstrafe), sondern als Totschlag (fünf bis 15 Jahre) gewertet wissen. Doch dass L. die Tat abbrach, eine längere Pause einlegte, zurückkehrte und – ein Tötungsdelikt in zwei Phasen sozusagen – erneut auf Sophia einschlug, ist mit einer affektiv aufgeladenen Stimmung nicht erklärbar, stellte der Psychiater im Rahmen der Beweisaufnahme fest.

Verteidiger glaubt eigenem Mandanten nicht

So trägt Rechtsanwalt Schieseck in seinem Schlussvortrag eine neue Version vor: Sein Mandant Boujemaa L. habe eben gelogen. Er könne nicht zugeben, dass er eine Frau getötet habe, nur weil sie ihm vorher eine knallte. Deshalb habe L. das Geschehen in zwei Phasen erfunden. Und die Suche der Familie Lösche nach der Wahrheit? Der Verteidiger verweist nach Hollywood – nur in Kinofilmen über Strafverfahren werde theatralisch nach der Wahrheit gesucht. In der echten Welt könne man sich der Wahrheit eben immer nur annähern. Theatralisch wird es dennoch im Sitzungssaal: "Wenn Sie mich zum Tode verurteilen, es macht mir nichts aus", sagt der Angeklagte im Schlusswort. Am 18. September wird das Gericht das Urteil sprechen.


Der Fall Sophia - eine Chronologie der Ereignisse:

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