Diabetes: Zahl bei Kindern und Jugendlichen gestiegen
25.11.2012, 08:00 Uhr
Christian Müller-Thomas hat sich vorher nie mit Diabetes mellitus beschäftigt. Und dann kam Paul. Als die Eltern Ende März 2012 die Diagnose bekamen, war ihr Sprössling gerade erst zwei Jahre alt. Zu Beginn war er „ruhig und sehr in sich gekehrt“, obwohl der inzwischen Dreijährige eigentlich ein kleiner Rabauke, ein lebhafter und frecher Knirps ist, über den sein Papa sogar erzählt, dass er versucht, sich in der Krippe gegen die Größeren zu behaupten. Die Eltern dachten zunächst, er wäre vielleicht in der Kinderkrippe unterfordert. „Wir hatten es dann befürchtet, als die Symptome immer deutlicher wurden“, erzählt der Vater.
Plötzlich trank Paul fünf bis sechs Liter am Tag, wurde nachts alle zwei Stunden wach, verlangte nach Flüssigkeit und brüllte, weil der hohe Zuckergehalt im Blut auf Herz und Nieren schlug. Er war stark dehydriert. „Wir haben damals vieles anders eingeordnet“, erinnert sich Müller-Thomas. Voller Sorge suchten sie einen Arzt auf, der – nach einem Blutzuckertest – Paul sofort in die Kinderklinik unter Leitung des Diabetologen und Sotffwechselexperten Holger Blessing einwies.
Um den abgelagerten Zucker im Körper abzubauen hing er seinen bisher kleinsten Patienten an einen Tropf, Paul bekam eine Insulin- und Pumpentherapie. „Das Personal streichelt die Seele der Eltern“, erinnert sich Müller-Thomas und hört sich dankbar an. Sie wurden vielfach geschult, erhielten Ernährungsberatung und wurden vorbereitet auf die Tücken des Alltages mit einem erkrankten Kind.
Schock sitzt tief
Über ein halbes Jahr liegt dieser Befund nun zurück. Und dennoch sitzt „dieser Schock“ der jungen vierköpfigen Familie noch tief in den Knochen. „Emotional ist es noch nicht einhundertprozentig angekommen“, sagt Müller-Thomas. Ein Jahr, meinten die Ärzte, dauere es im Regelfall, bis die Diagnose in den Familien verarbeitet ist. Ein täglicher Großeinsatz für die Nerven. „Ich trage große Verantwortung und stehe unter irrem Druck“, gesteht Müller-Thomas und es ist ihm anzumerken, wie sehr ihn die Belastung psychisch begleitet. „Ich darf nichts falsch machen“, so benennt er sein Damoklesschwert.
Auch heute noch erleben sie neue Symptome und Auswirkungen der Krankheit. Nachdem sie im August aus dem Urlaub zurückkamen und sich der reguläre Tagesablauf wieder einstellte, erlitt Paul in der Kinderkrippe eine Stoffwechsel-entgleisung. Mit dem Tagesrhythmus änderte sich der körperliche Zustand. „Er war dehydriert und kotzte, weil er einen immensen Insulinmangel hatte.“ Ein Leben auf Rufbereitschaft, immer das Ohr zum Telefon gerichtet. „Ich hinterfrage das Schicksal nicht, wir haben uns damit abgefunden. Paul kennt es nicht anders“, sagt Müller-Thomas, der hofft, dass er mit seinen Erfahrungen zumindest ein wenig anderen betroffenen Familien helfen kann.
Dass die Zahlen bei Kleinkindern, Kindern und Jugendlichen inzwischen so dramatisch angestiegen ist, beschäftigt den betroffenen Vater sehr. „Auch, wenn ein Teil der Krankheit durch die Gene vererbt wird, erklärt das nicht diese Steigerungsrate. Auch Umweltfaktoren müssen dies beeinflussen“, vermutet er. 346 Millionen Menschen weltweit und rund zehn Millionen Deutsche sollen Experten zufolge betroffen sein.
Zucker könne jeden treffen – egal, in welchem Alter, egal in welchem Land. Gerade in den Boom-Ländern Indien und China gibt es Steigerungsraten von fast 100 Prozent. Dabei ist die Erklärung der Fachleute vergleichsweise simpel: Unser Erbgut ist einfach zu alt. Es ist ausgerichtet auf die Umweltbedingungen von vor über 4000 Jahren.
Es entspricht also eher den Lebensbedingungen der Jäger und Sammler und nicht denen eines Großstadtmenschen im 21. Jahrhundert. Was oftmals fehlt, ist die Bewegung. Hinzukommen Fettleibigkeit und falsche bzw. mangelhafte Ernährung. Früher wurde der daraus entstehende Diabetes mellitus Typ II noch als „Altersdiabetes“ bezeichnet, heute führen die Wissenschaftler schon Umwelteinflüsse bei der „Programmierung im Mutterleib“ an.
Genetische Voraussetzungen
Typ I des Diabetes wird vor allem bei Kleinkindern wie Paul Thomas immer häufiger. Der Deutschen-Diabetes-Gesellschaft zufolge hat sich die Zahl derjenigen Kinder unter 15 Jahren, bei denen durch eine Fehlsteuerung der Immunabwehr die Eigenproduktion an Insulin zerstört wird, in den letzten 22 Jahren verdoppelt. Ein Grund sind die genetischen Voraussetzungen der Eltern – wie auch in Pauls Fall – die Wissenschaftler diskutieren derzeit aber auch über Umweltrisiken wie verfrühtes Abstillen oder Kaiserschnittgeburten.
„Er war auch ein Schelm“, als er die Diagnose bekommen hat, erinnert sich Christian Müller-Thomas an Tag im März. „Am Anfang fand er es spannend, dass er im Mittelpunkt stand, er macht immer noch ganz tapfer mit“, erzählt der Papa, dessen sechsjährige Tochter glücklicherweise symptomfrei ist. „Kleiner Kämpfer“ nennen sie ihn, weil er sich nicht unterkriegen lässt. Und der Knirps ist sich sicher: „Wenn ich groß bin, geht die Pumpe weg.“
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