Erlanger Sportler: Früher Handballer, heute Held

3.2.2020, 11:44 Uhr
Erlanger Sportler: Früher Handballer, heute Held

© Natalie Greß

Das letzte Mal geweint hat er vor elf Jahren, nach dem Tod seiner Oma. Seit sein eigenes Leben zu Ende gegangen ist, so, wie er es kannte, sind ihm nur noch einmal die Tränen gekommen. Tobias Büttner war bis vor vier Jahren Leistungssportler beim Handball-Zweitligisten DJK Rimpar Wölfe und stand zuletzt beim Drittliga-Absteiger TV 1861 Bruck unter Vertrag, dazu arbeitete er bei der Sparkasse in Forchheim. Doch Handballspielen wird er nie mehr — und das ist noch die kleinere Sorge.

"Ich habe kein Selbstmitleid, also brauche ich auch kein Mitleid", sagt der 26-Jährige mit fester Stimme an diesem Wintertag in der Zentralklinik im thüringischen Bad Berka, vier Monate nach dem Moment, der alles verändert hat.

Es ist ein Sommertag auf Mallorca, der 29. Juli 2019. Tobias Büttner ist mit zwei Kumpels für ein langes Wochenende auf der Insel. Mittags sind sie auf der Partymeile von El Arenal. "Wir haben zwei kleine Freibiere abgesahnt und waren noch weit davon entfernt, betrunken zu sein", sagt er. "Dann ist es passiert: Ich bin von der Toilette zurückgekommen, auf dem nassen Boden blöd weggerutscht, nach hinten über einen Barhocker gefallen und mit dem Kopf und Genick auf dem Boden aufgeschlagen."

Eine Szene, fast banal im berauschten Ballermann-Alltag. Ein Sturz, wie ihn Büttner selbst so ähnlich schon erlebt hat, nicht nur bei Saisonabschlussfahrten mit den Handballern. "Erst am Vorabend bin ich von einem Hocker runtergeflogen und lachend wieder hochgeklettert." An diesem Tag steht er nicht mehr auf. "Ich hab sofort gemerkt, dass ich halsabwärts nichts mehr bewegen konnte."

Zwei Türsteher packen den Erlanger an Händen und Füßen, tragen ihn nach draußen und legen ihn auf dem Gehsteig in der Sonne ab. Was ihm damals durch den Kopf geht, verdrängt sein Gedächtnis. Er kann sich nur noch daran erinnern, dass irgendwann ein Krankenwagen kommt und ihn in die Klinik nach Palma bringt. Nach CT und MRT beruhigen die spanischen Ärzte ihn mit den Worten: "In vier Wochen bist du wieder der Alte." Heute weiß Tobias Büttner: Das wird er nie mehr sein.

Seine Auslandskrankenversicherung schickt zwei deutsche Ärzte nach Mallorca. Sie begleiten ihn beim Rücktransport. Zwei Tage nach dem Unfall wird er in einer Art Privatjet von Palma nach Erfurt geflogen — "wie ein Star", scherzt Büttner. Nach sechsstündiger Notoperation in Bad Berka erfahren seine Eltern: Ihr Sohn ist ab dem dritten Halswirbel inkomplett querschnittgelähmt.

Erlanger Sportler: Früher Handballer, heute Held

© Foto: Natalie Greß

Tetraplegie heißt seine Form der Querschnittlähmung, bei der aufgrund einer Quetschung des Rückenmarks beide Arme und beide Beine teilweise gelähmt sind. Meist geht Betroffenen auch die Sensibilität für Schmerz, Druck oder Temperaturunterschiede verloren. Als Büttner mit einer monströsen Manschette um den Hals auf der Intensivstation aus der Narkose aufwacht, spürt er im ganzen Körper: nichts.

Eine längere Narbe im Nacken und eine kürzere am Hals sind vom Eingriff geblieben. Doch man nimmt sie kaum wahr. Es ist auch nicht der Rollstuhl, der als Erstes auffällt, als der Fahrer mit den kurzrasierten blonden Haaren im Foyer des Klinikums um die Ecke biegt. Es sind nicht die schlanken Beine in der schwarzen Jogginghose und nicht die schmalen Schultern, die mal zu einem Leistungssportlerkörper mit 20 Kilogramm mehr Gewicht gehörten. Und es ist auch nicht das grüne Trikot mit der Nummer 27, in dem der Rechtsaußen 2014/15 mit den Rimparer Wölfen die erste Saison in der zweite Bundesliga spielte.

"Heute hab ich mich das erste Mal selber angezogen, sogar die Schuhe hab ich zugebunden", sagt der Linkshänder. Er grinst stolz, als habe er soeben das Tor zu einem entscheidenden Sieg geworfen. Dieses offene, ungekünstelte Lachen ist es, das den Blick wie ein Magnet anzieht. Zwei leuchtende blaugrüne Augen halten den Blick fest. Ein Schild mit der Aufschrift "Nüscht für Luschen, wir brauchen Helden", steht am Haupteingang des Krankenhauses.

Erlanger Sportler: Früher Handballer, heute Held

© Foto: Natalie Greß

"Wenn man mit dem Verstand eines jungen Mannes mit über 26 Jahren Lebenserfahrung aufwacht und plötzlich einen völlig funktionslosen Körper hat, der alles neu lernen muss wie ein Baby, obwohl der Verstand weiß, zu was der Körper im Stande ist, dann denkt man: Das ist die schlimmste Zeit deines Lebens", sagt Büttner. "Heute weiß ich: Das ist es nicht." Er schaut in die Gesichter seiner Geschwister und seines Schwagers und lächelt. Dankbar.

"Das einzige, womit Tobi sich beschäftigen konnte, war wirklich sein Kopf", sagt Jochen Weeger (30), der Mann von Büttners Schwester Stefanie. Ein Kopf kann zum Gefängnis werden. Für den Sportler wird er zur Hölle. Gebettet in einem Beatmungszimmer zwischen vielen Schläuchen und Kabeln, leidet er unter heftigen Halluzinationen.

Nach knapp drei Wochen spürt Büttner erste Zuckungen. Und mit ihnen: Hoffnung und riesige Motivation. "Seither gab es nur eine Richtung", betont er, "steil bergauf." Der gelernte Bankkaufmann hält kurz inne, dann schiebt er spaßig nach: "Wobei, zwei Tiefpunkte hatte ich: Als ich noch mal Krabbeln lernen musste und als ich die Gummibärchenbox, die mir Kollegen geschenkt haben, einfach nicht aufbekommen habe." Einen vorläufigen Höhepunkt gab es auch: "Als ich zum ersten Mal wieder eine Bierflasche halten und selbst daraus trinken konnte."

An diesem Tag ist es ein Pappbecher Kaffee. Der Handballer braucht beide Hände, um ihn zum Mund zu führen. In den Fingern fehlt die Feinmotorik. Seit zwei Wochen kann er sich trotzdem selbst einen Kurzzeitkatheter legen, wieder ein Stück Selbständigkeit. "Ich bin völlig kontinent", sagt er, "nur funktionieren Blase und Darm noch nicht so, wie sie sollen." Typisch bei Tetraplegie.

Christin Schulz, Gesundheits- und Krankenpflegerin, erinnert sich noch gut an ihre erste Begegnung mit dem Stations-Spaßvogel. "Wenn jemand gar nichts mehr selber kann, schafft das sehr intime Situationen in der Körperpflege", sagt sie. "Erzähl‘ ruhig, dass ich mir in die Hose gekackt und mich gefreut hab, dass ich es gemerkt hab", fordert Büttner sie auf. Er behauptet von sich, seit jeher kein besonders ausgeprägtes Schamgefühl zu besitzen. Das komme ihm nun zugute.

Büttner und die 21-Jährige haben viele Stunden in den vier Monaten zusammen verbracht und sich angefreundet. Nie habe sie ihn jammern hören, sagt Christin Schulz. "Manchmal motiviert er uns sogar mehr als wir ihn." Was sie besonders imponiert: "Er lässt sich von niemandem negativ beeinflussen. Neulich hat die Oberärztin zu ihm gesagt: ,Ich gehe davon aus, dass du nie wieder selbständig laufen wirst.‘ Da hat er nur gelacht." Was die Ärztin nicht wusste: Zu dem Zeitpunkt hatte Büttner dank täglich mehrstündiger Physio-, Ergo- und Sporttherapie, einem Krafttraining und Rollstuhlspiel, bereits erste Schritte gemacht.

"Ich habe durch den Leistungssport gelernt, auch nach Niederlagen weiterzumachen, wieder aufzustehen und über Grenzen hinauszugehen." Vor dem Unfall habe sein Leben hauptsächlich aus Arbeit bestanden, berichtet der Bankkaufmann. Er war Teamleiter in der Online-Beratung der Sparkasse in Forchheim, nebenbei Vertriebscoach für Mitarbeiter. Nach der 50-Stunden-Woche im Job studierte er am Wochenende an einer Privatuni in Nürnberg Wirtschaftswissenschaften. Dazu kam der Handball, den er zuletzt hatte immer mehr schleifen lassen. "Diese Saison in der Bayernliga wollte ich wieder angreifen." Doch alles zusammen war zu viel.

"Vielleicht habe ich einen Paukenschlag gebraucht, um aufzuwachen." Auch wenn der Paukenschlag ein irreversibler Nackenschlag war. "Es hört sich vielleicht komisch an, aber ich habe dadurch viel über mich gelernt. Und vor allem, worauf es wirklich ankommt im Leben. Auf die Menschen, die man liebt. Auf Familie und Freunde. Und auf die Zeit, die man mit ihnen hat."

Kurz vor Weihnachten ist er in die Reha nach Bad Wildbad im Schwarzwald verlegt worden. Wie lange er dort bleiben wird, weiß er nicht. Die Ärzte hüten sich vor Prognosen zur weiteren Heilung. Sie hängt davon ab, ob und wie die geschädigten Nervenfasern im Rückenmark zusammenwachsen. "So bewegen wie früher werde ich mich nicht mehr können", sagt Büttner. Er schaut auf seine Beine, die plötzlich krampfen. Muskelzuckungen. "Wichtiger als Gehen wäre mir, dass diese Spastik nachlässt."

Künftige Rückschläge schließt er nicht aus, an eines will er indes fest glauben: "Mein neues Leben wird anders werden, aber nicht weniger lebenswert." Fürs erste Jahr hat er sich drei Ziele gesetzt: "Selbständig in meine Wohnung zurückziehen, eins zu eins in meinen Job zurückkehren und jeden Tag etwas Gutes tun. Und sei es nur, einen Menschen zum Lachen zu bringen."

Auf ein Ereignis freut er sich schon jetzt: die Erlanger Bergkirchweih. "Bis dahin will ich noch lernen, mir einen Dauerkatheter zu legen. Wenn alle anderen ständig aufs Klo müssen, brauche ich unterm Biertisch nur meinen Beutel wechseln. Geil!" An diesem Tag bringt er zum wiederholten Mal fünf Menschen auf einmal zum Lachen.

Dann zeigt Büttner noch das Brucker Trikot. "Damit spielt die Mannschaft die ganze Saison", sagt er und deutet auf einen Schriftzug in Bauchhöhe. "Als ich das geschenkt bekommen habe, hab ich zum ersten Mal seit dem Tod meiner Oma wieder ein paar Tränen verdrückt." In Versalien steht da: "Auf geht‘s Bütti, kämpfen & siegen!"

Die Autorin ist Sportredakteurin bei der Main-Post in Würzburg.

Mein neues Leben wird anders

werden, aber nicht weniger lebenswert

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