Multitalent Niederndorf, vom Verkehr eingezwängt

27.1.2017, 18:57 Uhr
Multitalent Niederndorf, vom Verkehr eingezwängt
Multitalent Niederndorf, vom Verkehr eingezwängt
Multitalent Niederndorf, vom Verkehr eingezwängt
Multitalent Niederndorf, vom Verkehr eingezwängt

© Fotos: Pfrogner

Multitalent Niederndorf, vom Verkehr eingezwängt

© Fotos: Pfrogner

NIEDERNDORF — Ein arbeitsames Volk lebt seit Jahrhunderten im größten Ortsteil Herzogenaurachs mit zurzeit 2943 Einwohnern, Nebenwohnsitz inbegriffen. Früher bestimmten Bauern, Ziegeleiarbeiter und Maurer das Bild, heute auch Siemensianer und Akademiker: Die Erlanger Stadtgrenze beginnt schließlich in Neuses, das nur ein paar Meter vom Niederndorfer Ortsschild entfernt ist.

Das Zentrum Niederndorfs liegt an der Hauptstraße mit St. Josefskirche, Friedhof, umgebautem Kirchenplatz. Mit dem Zuzug von Flüchtlingen nach dem Zweiten Weltkrieg erweiterte sich die Ortschaft nach Osten und Norden. Später wurden diese Häuser oftmals aufgestockt für Nachkommen. Ein weiteres Baugebiet entstand am Sudetenring, später am Hasengarten, als sich Siemensianer in Niederndorf niederließen. Jüngst kam eine weitere Bauwelle: Am Fasanengarten und am Behälterberg entstanden Häuser.

Ein Hingucker bewegte sich 2003 als Zug durch die Ortschaft: „700 Jahre Niederndorf“ wurde mit malerischem Festzug, der den Ort ins Bild setzte und einer jahresfüllenden Veranstaltungsserie im Dorf gefeiert: Sportlich, musikalisch und kulturell.

Wichtige Vereine und Akteure liefen in Festtracht durch die Straßen:

Die Feuerwehr, die Theatergruppe Niederndorf, die Schützengilde, der ASV Niederndorf, mit rund 1300 Mitgliedern der größte Verein, der nicht nur ein Fußballverein ist, auch Tanzsportler, Tischtennisspieler, Badminton-Spieler, Sänger und weitere Abteilungen finden dort ihren Aktionsradius. Jüngst allerdings abtrünnig: Die Karatekas. Der ASV ist Heimatverein von Badminton-Cracks. Doch derjenige Niederndorfer mit größter Prominenz ist der wohl berühmteste Musikers Herzogenaurachs: Der Jazzpianist Thomas Fink, der 2015 seinen 80. Geburtstag feierte.

Niederndorf hat sich nicht nur musikalisch und sportlich in die Annalen eingeschrieben. Auch „kommerziell“, literarisch und theatralisch. Tuchmacher und Färber Cunz Reyther, geboren um 1450, der in Nürnberg zu Wohlstand und Ansehen gelangte, stammte aus Niederndorf. 1509 stiftete er Herzogenaurach das Spital zum Heiligen Geist, das erste Senioren- und Siechenhaus, heute Stadtmuseum.

Jahrhunderte später ebenfalls eine Berühmtheit: Der autodidaktische Autor Hans Fink, der sich selbst als „Bauernmaurer“ bezeichnet, schrieb jahrelang an der Geschichte seines Orts und für die Theatergruppe Niederndorf passende Stücke: „Wies hald su geht“ oder „A scheener Dooch“. Schier weltberühmt ist dieser Name: Filmstar Elke Sommer wuchs als Pfarrerstochter in Niederndorf auf.

Keine Beschreibung Niederndorfs kommt aus ohne die Nennung der Namen „Winkelmann“ und „Fink“, deren Verästelungen einem Nicht-Einheimischen ein Buch mit sieben Siegeln sind. Der Winkelmanns-Saal heißt das zentrale Gasthaus noch heute, mehrfach wurde es multikulturell umbenannt, eine Zeit lang firmierte es als „Bella Tandoori“, was auf italienisch-indische Einflüsse zurückging.

Die ehemalige Posthalterin Niederndorfs, langjährige CSU-Stadträtin – von 1990 bis 2008 – und noch immer Kreisrätin Doris Wüstner, die mit ihrem Mann Bernd, Schatzmeister des ASV Niederndorf, „siemensbedingt“ nach Niederndorf zog und seit 2007 in Herzogenaurach wohnt, kann über Niederndorf berichten, wie es sich in den vergangenen rund 50 Jahren entwickelte: „Die damals zuziehende Bevölkerung verlangte mehr Wohnqualität durch Kultur.“

Durch Engagement in Kindergarten, Schule und Sportverein sickerte der neue Lebensstil ein – nicht ohne Gegenwehr der Eingesessenen.

1983 wurde die Turnhalle als „Begegnungsforum“ gebaut, als eine Art spätes Eingemeindegeschenk der Stadt Herzogenaurach.

Die aktuelle Berühmtheit ist Jazzpianist und Herzogenaurachs Kulturpreisträger Thomas Fink, schon zu Zeiten, als Reisen noch nicht selbstverständlich war, „on the road“ als Musiker in den Ami-Clubs. Er hat in Niederndorf bis heute seine Heimatbasis mit Frau Ruth, Kindern und Enkeln sowie Blick auf großen Traumgarten, früher eine Gärtnerei. „Ich hänge sehr am alten Niederndorf“, sagt er und deutet auf eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die seinen Vater mit Familienmitgliedern als Buben auf einem Fahrrad zeigt.

„Als Kind war ich sehr viel auf den Feldern. Wir passten auf den Ochsen auf, wenn die Kartoffeln rauskamen. Der Brotzeit-Tee wurde in der Aurach gekühlt.“

„Früher kannten sich alle, heutzutage kennt man viele Leute nicht mehr“. Helmut Sonnert sagt dies. Er ist der Patensohn von Thomas Fink und kommt gerade des Wegs mit seiner aus Südamerika stammenden Frau Alisson und den Kindern Isaac und Anna-Martina. Das Niederndorfer Lebensgefühl? „Es ist der Speckgürtel einer Mittelstadt mit Leuten, die bei den großen Konzernen arbeiten und Akademikern. Den Leuten hier geht’s gut. Viele alte Niederndorfer haben Bauplätze, der Wohlstand ist hoch.“

Niederndorf erfreut sich großen Zuzugs, mit entsprechend mehr Verkehrsaufkommen. Doch der Hauptgrund für die seit den 1980ern zusehends beklagte Verkehrsmisere sind Pendler aus dem Großraum Nürnberg, Erlangen, Fürth, die via Niederndorf zu ihren Arbeitsplätzen fahren.

So wurde die Forderung nach einer Südumgehung um Niederndorf, genauso wie nach einer Umgehung um Neuses zusehends lauter, aber auch umstrittener aus Naturschutzgründen. Diese Situation bringt Kunstschmied Bernhard Belzer auf den Punkt: „Der Verkehr hat das Dorf kaputtgemacht! Die Südumgehung kommt um 30 Jahre zu spät.“

Um dies zu versinnbildlichen rauscht ein großer Brauereilastwagen an Belzer vorbei, der auf dem Trottoir vor seinem Geschäft steht und dessen Worte der Fahrtwind mitreißt. Der Stadtrat Herzogenaurach sprach sich vor Jahren mehrheitlich und fraktionsübergreifend für eine Südumgehung aus. Dies alles miterlebt und mitgestimmt hat Renate Frötsch, bis 2014 Stadträtin aus Niederndorf für die CSU im Stadtrat von Herzogenaurach. Sie nimmt uns mit auf eine Tour durch den alten Niederndorfer Ortskern, beginnend am Brunnen hinter der Apotheke. Der kleine Platz dort wurde im Rahmen der Dorferneuerung gestaltet. Von dort blickt man auf bäuerliche Anwesen.

Einige der prägenden Scheunen im alten Niederndorf wurden abgerissen, nachdem die Bauernhöfe aufgaben. Anderen hauchen Kinder oder Enkel wieder neues Leben ein.

Ein solches Gebäude ist die Mühle an der Aurach. Zufällig treffen wir den technikbegeisterten Abiturienten Veit Götz, der uns die Tür zur Mühle öffnet und erläutert, wie dort Strom erzeugt wird, elf Kilowatt pro Stunde.

Die alte Mühle wird zurzeit saniert: „Meine Schwester und ich ziehen dann ein“, freut sich der junge Mann, der auch in der Kirchenband „Spirit of Life“ mitspielt.

Renate Frötsch, geboren 1949 als die 1000. Einwohnerin von Niederndorf, kann sich noch gut erinnern, wie das Nachkriegs-Niederndorf mit vier Lebensmittelläden und den beiden eigenständigen Bäckereien Lober und Winkelmann aussah.

Am 1923 gestalteten Kirchenplatz war noch Pfarramt, Schwesternwohnungen, Kindergarten und Schule bis zur achten Klasse. Heute ist dies alles vergangen. Niederndorf hat keinen eigenen Pfarrer mehr. In den Gebäuden wohnen nun Flüchtlingsfamilien.

Die Ortsmitte wird neuerdings auch umgestaltet durch eine Bäckereifiliale, die von der Hauptstraße umzieht.

Der ASV Niederndorf, der alljährlich bis zu 130 Mitglieder aufnimmt und wieder verliert, wie Schatzmeister Bernd Wüstner weiß, war 2015 auch dabei, als sich Bürger nach der Flüchtlingswelle um Integration bemühten: Internationaler als der FC Bayern München stellten sich die Kicker auf.

Das Ortsportrait von Niederndorf mit einem Video von Jazzpianist Thomas Fink („As time goes by“) ist zu lesen und zu hören bei SamSon, dem digitalen Magazin der Nürnberger Nachrichten. Abrufbar in der iPad-App oder unter www.samson-magazin.de. Mehr unter nordbayern.de/digitalabo. Bildergalerie www.nordbayern.de/herzogenaurach

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