Krieg um Bergkarabach: Sie sangen in Nürnberg, nun stehen sie auf unterschiedlichen Seiten

19.10.2020, 16:51 Uhr
Die Armenierin Hrachuhi Bassenz feierte auf der Nürnberger Opernbühne große Erfolge, hier sieht man sie beim Klassik Open Air 2011.

© Foto: Claus Felix Die Armenierin Hrachuhi Bassenz feierte auf der Nürnberger Opernbühne große Erfolge, hier sieht man sie beim Klassik Open Air 2011.

Ob Violetta an ihrer ungelebten Liebe erstickt oder Desdemona von ihrem Ehemann aus Eifersucht erwürgt wird: Große existenzielle Konflikte, überwältigende, oft tödliche Emotionen sind für eine Sängerin wie Hrachuhí Bassénz auf der Opernbühne allgegenwärtig.

Paraderolle in "La Traviata"

Von 2008 bis 2018 hat Bassénz am Nürnberger Opernhaus mit ihrem farbigen, kraftvollen und nuancenreich gestaltenden Sopran das Publikum immer wieder zu begeistern vermocht. Paraderollen waren besagte Violetta in Verdis „La Traviata“ und die Titelpartie in Bellinis „Norma“.

Doch auch im Leben von Opernsängerinnen und Opernsängern gibt es immer wieder Momente außerhalb des Berufs, die die Gefühle noch mehr in Aufruhr versetzen als die zwischen Glück und Vernichtung hin und her gerissenen Bühnenrollen.

"Die Schreie meiner schlaflosen Stunden"

Bei Bassénz ist es nun ihre biografische Herkunft. Die gebürtige Armenierin ist aufgewühlt von dem am 27. September neuerlich aufgeflammten Krieg zwischen ihrem Heimatland und dem Nachbarland Aserbaidschan. „Mein Volk bekämpft den Tod und kämpft um das Überleben und für das Recht weiterleben zu dürfen“, schreibt Bassénz in einem im Internet verbreiteten Brief, über den sie sagt: „Es sind die Schreie meiner schlaflosen Stunden und Sekunden.“

Wieder einmal geht es um Bergkarabach, eine Provinz, etwa doppelt so groß wie das Saarland, die seit über 100 Jahren von beiden Staaten im Südkaukasus beansprucht wird. 1922 gingen diese in der Sowjetunion auf, und Josef Stalin schlug das mehrheitlich von Armeniern bevölkerte, in christlicher Tradition stehende Bergkarabach dem muslimisch geprägten Aserbaidschan zu.

Als Mitglied des Internationalen Opernstudios Nürnberg sang er im Opernhaus unter anderem in der Oper "Andrea Chenier": der Aserbaidschaner Javid Samadov.

Als Mitglied des Internationalen Opernstudios Nürnberg sang er im Opernhaus unter anderem in der Oper "Andrea Chenier": der Aserbaidschaner Javid Samadov. © Ludwig Olah, Staatstheater Nürnberg

70 Jahre lang herrschte nur äußerlich Ruhe, dann, nach dem Zerfall der Sowjetunion, rief sich Bergkarabach als autonome Republik aus, Aserbaidschan erklärte den Krieg, der von 1992 bis 1994 dauerte und mehr als 30 000 Menschen das Leben kostete. Armenien war damals militärisch überlegen und besetzte Bergkarabach sowie sieben benachbarte Provinzen – als eine Art Pufferzone.

Über eine Million Menschen, vorwiegend Aserbaidschaner, wurden vertrieben, Armenien hielt nach diesem Krieg fast ein Sechstel der Fläche Aserbaidschans besetzt. Im Wesentlichen ist dies noch der gegenwärtige Status Quo, nachdem ein 1992 von der OSZE angestoßener Friedensprozess wegen der starren Haltung beider Seiten im Sande verlaufen ist.

Verfahrene Positionen

Aserbaidschan besteht auf seiner territorialen Integrität, was von mehreren UN-Resolutionen unterstützt wird; Armenien pocht auf das Recht auf Selbstbestimmung der in Bergkarabach lebenden Armenier. Mehrere Volksabstimmungen dort bekräftigen diesen Wunsch nach Unabhängigkeit, heute sind rund 99 Prozent der in Bergkarabach lebenden Menschen christliche Armenier.

Dieser oft als „eingefroren“ bezeichnete Konflikt ist nun am 27. September schlagartig explodiert. Mehrere Dörfer und Siedlungen in Bergkarabach wurden angegriffen, aber auch Ganja, die 100 Kilometer entfernte, zweitgrößte Stadt Aserbaidschans, wurde getroffen.

Geboren in Baku

„Armenien bombardiert schon zum zweiten Mal Ganja“, klagt deshalb Javid Samadov. Der aserbaidschanische Bariton ist in der Hauptstadt Baku geboren. Während Hrachuhí Bassénz in Nürnberg ihre Erfolge feierte, sang er am Opernhaus von 2012 bis 2014 als Mitglied des Opernstudios Partien u. a. in „Rheingold“ und „Andrea Chenier“ und war mit „Don Giovanni“ und „Carmen“ an denselben Produktionen wie Bassénz beteiligt. Noch heute lebt er in Nürnberg, während Bassénz seit 2018 Ensemblemitglied der Dresdner Semperoper ist.

In Kriegen neigen die Beteiligten gewöhnlich zu selektiver, parteiischer Wahrnehmung, das ist auch in diesem Konflikt so. Armenien und Aserbaidschan beschuldigen sich gegenseitig, am 27. September den ersten Schuss in Bergkarabach abgegeben zu haben. Damit schreibt sich eine jahrzehntelange Geschichte fort, in der beide Seiten historische Wunden wie Pogrome in wechselnder Täter-Opfer-Konstellation für Propaganda und gegenseitige Vorwürfe nutzen.

Es droht ein Stellvertreterkrieg

Der aktuelle Konflikt wird dadurch aufgeheizt, dass sich Russland als Schutzmacht Armeniens versteht, während die Türkei Aserbaidschan unterstützt. Letztlich droht der Südkaukasus somit zum Schauplatz eines Stellvertreterkriegs zu werden.

Die jahrzehntelangen Frustrationen, die sich auf beiden Seiten angestaut haben, färben auch die Statements der Sopranistin und des Baritons ein. Bassénz schreibt: „Aserbaidschans krankhafter Wunsch, im 21. Jahrhundert mit Krieg für diese Frage eine Antwort zu finden, ist keine Lösung.“ Javid Samadov hingegen argumentiert: „Die Vereinten Nationen und der Europarat betrachten das überwiegend auch von Armeniern bewohnte Gebiet Karabach als Bestandteil Aserbaidschans! Hinter meinen Gefühlen und meiner Meinung stehen Dokumente von Vereinten Nationen und des Europarats.“

Historisches Trauma

Bassénz hingegen spricht sogar von einem „türkisch-aserbaidschanischen Angriff“ auf Armenien und vom Plan, „die Armenier auszulöschen“. Hinter dieser Äußerung steht das historische Trauma des Genozids der Türkei an 1,5 Millionen Armeniern während des Ersten Weltkriegs.

Den aktuellen Konflikt beschreibt Samadov nüchterner als Bassénz: „Der Krieg richtet sich nicht gegen das armenische Volk oder Armenien, der Krieg richtet sich gegen die armenischen Streitkräfte in der Aserbaidschanischen Republik."

Auf beiden Seiten sterben unschuldige Menschen

So sehr die unversöhnlichen Standpunkte der Konfliktparteien die Äußerungen von Bassénz und Samadov einfärben – beide sind sich darin einig, dass unschuldige Menschen auf beiden Seiten sterben. Vielleicht kann dieser Minimalkonsens eine Hoffnung auf Frieden nähren, der über den momentan für Bergkarabach ausgehandelten, aber brüchigen Waffenstillstand hinausreicht und tragfähig ist. Auch wenn vieles gegen ein Happy End spricht.

Verwandte Themen


Keine Kommentare