Kulturpflege für ein Seidla Bier

20.5.2021, 12:36 Uhr
Ein besonders schönes Rad: Das kleine Schäferrad nahe Oberndorf.

© e-arc-tmp-20210517_105440-1.jpg, NN Ein besonders schönes Rad: Das kleine Schäferrad nahe Oberndorf.

Die Telefonnummer auf der großen Schautafel im Wiesengrund ist, eigentlich, nicht mehr aktuell. Sie hätten, wird man später erfahren, gern eine neue Tafel, bloß wäre die zu teuer. Sie tun ja alles aus Leidenschaft, an Geld fehlt es immer. Wer die Nummer wählt, erfährt trotzdem mehr über eine besondere Heimat- und Naturliebe. Es ist die Nummer von Hannelore Wieseckel, ihr 2014 verstorbener Mann war es, der diese Leidenschaft neu weckte. „Die Wasserräder“, sagt Hannelore Wieseckel, „waren sein ein und alles, sein Leben.“ So hört man es hier öfter.


In Möhrendorf bei Erlangen kennt jeder Horst Wieseckel, der gelernte Maler betreute die Poststation, und er gehört zu den Menschen, die im Gedächtnis fortleben, weil sie etwas hinterlassen haben. Das ist in diesem Fall kein zu großes Wort. Möhrendorf trägt, wie auch Stadeln, Vach, Hausen und der Landkreis Erlangen-Höchstadt, ein Wasserschöpfrad im Gemeindewappen, dass sich die Räder in der Regnitz – die letzten ihrer Art in Mitteleuropa – heute wieder drehen, ist Horst Wieseckel zu verdanken. „Es hat ihm weh getan, sie verfallen zu sehen“, erzählt seine Witwe, die nach dem Krieg aus dem zerstörten Berlin nach Möhrendorf kam, „als hier noch Kühe durch die Straßen liefen.“

"Alle Räder stehen still"


„Alle Räder stehen still“, titelte im Sommer 1983 die Nürnberger "Abendzeitung", es waren nur noch drei Räder – von einstmals etwa 250 entlang der Regnitz, Rednitz und Pegnitz – übrig geblieben, in ruinösem Zustand. Eine uralte Kulturtechnik drohte zu verschwinden. Horst Wieseckel regte Patenschaften für die Räder an, das brachte im Wortsinn Bewegung an den Fluss. Heute gehören Landwirte, Vereine, Parteien, die Gemeinde Möhrendorf, aber auch die Erlanger Stadtwerke und das Wasserwirtschaftsamt Nürnberg zu den Paten, vereint in der von Horst Wieseckel 1995 gegründeten Wasserradgemeinschaft. „Dass wir wieder zehn Räder haben, ist dem Horst zu verdanken“, sagt Dieter Setzer.


Der pensionierte Maschinenbauer ist so etwas wie der historische Fachwart der Gemeinde, wenn es um ihr Wahrzeichen geht, er pflegt auch die Internet-Seiten dazu. Setzer kennt die Geschichte dieser Technik aus den antiken Hochkulturen im Detail, für das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris sind Wasserschöpfräder schon für das dritte vorchristliche Jahrhundert belegt. Wie sie nach Europa kamen – über Kaufleute, Kreuzritter oder Pilger –, ist nicht bekannt, an der Regnitz bei Möhrendorf drehen sie sich seit spätestens 1486, wahrscheinlich schon seit dem 13. Jahrhundert.

Die Baiersdorfer Wasserordnung


Wenig Niederschlag, trockene Sandböden: Die Region war ein idealer Standort. Weil sich der Fluss hier nicht mehr stauen ließ, waren die Schöpfräder ein Segen für die Bewässerung der Wiesen, sie bescherten gute Ernten – und sorgten damit natürlich auch für Zwistigkeiten zwischen Bauern, Müllern und Fischern, keiner wollte sich das Wasser abgraben respektive abschöpfen lassen. Dieter Setzer hat es einmal ausgerechnet: Bei zwei Umdrehungen pro Minute schöpft ein Rad 500 Liter Wasser, das machte 180 Millionen Liter pro Rad und Saison – in einem heißen Sommer konnte das etwa ein Drittel des Flusswassers bedeuten.


Seit 1693 regelt deshalb die von Christan Ernst, dem großen Markgrafen von Brandenburg-Bayreuth, erlassene „Baiersdorfer Wasserordnung“ den Betrieb. Im Kern, sagt Setzer, ist sie heute noch gültig. Demnach dürfen die Räder erst ab Walpurgis Anfang Mai auf- und müssen zu Michaelis Ende September wieder abgebaut werden, darüber wachten einst der Wasserrichter und seine sieben Wassergrafen. Im Fluss bleibt nur die Radstatt, das Fundament, ein Gestell aus Eichenpfählen. Die Stauanlage, die das Wasser zum Rad leitet, muss auch in jedem Frühjahr neu errichtet werden. Im Winter liegen die Räder, zerlegt, in einem riesigen Schuppen am neuen Main-Donau-Kanal, eigens dafür erbaut von der Wasserradgemeinschaft.

600 Teile pro Rad

Es riecht nach altem Holz, und wer die vielen großen, kleineren und winzigen Einzelteile sieht – etwa 600 sind es pro Rad –, ahnt, wie viel Arbeit das bedeutet.
Tage? Wochen? Dieter Ganser lacht, er schaut, sagt er, nicht auf die Uhr. Man trifft Dieter Ganser in seiner Werkstatt an den Regnitzwiesen, er sitzt am Schnitzbock und arbeitet an den neuen Kümpfen. So heißen die Eimer, die das Wasser schöpfen, es sind kleine Kunstwerke, man sieht sie überall auch im Dorf, als Blumenvasen, als Schirmständer, zur Zierde.


Dieter Ganser, ein ruhiger, herzlicher Mensch, ist pensionierter Feinmechaniker, das Schnitzen hat er schon als junger Mann gelernt, von Heinrich Schuster, dem Vater seines Schwiegervaters. „Ich seh den alten Schuster noch vor mir“, sagt er, „wie er mit einem Seidla Bier in den Kuhstall geht, beim Schnitzen hat er laut gepfiffen“. Seit 50 Jahren hält es Dieter Ganser ähnlich, „ein Seidla Bier und eine Brotzeit“, das ist sein Arbeitslohn.

24 Schaufelbretter

Ohne Menschen wie Dieter Ganser gäbe es die Wasserräder nicht mehr, jeder in dieser „Rentner-Band“, wie Hannelore Wieseckel die Wassergrafen des 21. Jahrhunderts nennt, arbeitet ehrenamtlich. Es war Horst Wieseckel, der seinen ehemaligen Schulkameraden Ganser anwarb – für den Verein Zufriedenheit, den Paten des Kleinen Schäferrades bei Oberndorf, für das Ganser nicht nur die Kümpfe fertigt. Er ist viel im Wald unterwegs, auf Holzsuche, nicht leicht zu finden sind die Krümmlinge, krumme Hölzer, aus denen der Radkranz wird.


An dem werden die 24 Schaufelbretter zum Antrieb des Rads befestigt – mit Holzbändern, deshalb steht Ganser dann „an einem alten Bade-Ofen“, wie er erzählt. Drei Stunden lang muss das Eichenholz gekocht werden, ehe man es biegen kann, dafür braucht es Erfahrung und Fingerspitzengefühl. Aus Holz ist (fast) alles, lediglich die massive Welle hat an ihren Enden zwei Stahlzapfen, und die Kümpfe, befestigt mit Holznägeln, halten heute nicht mehr Weidenflechten, sondern feine Stahlbänder zusammen.

Alles ist Handarbeit


Etwa drei Jahre hält so ein Kumpf, 24 drehen sich an jedem Rad – 36 sind es nur am Vierzigmann-Rad, dem einzigen sogenannten Doppelrad. „Hunderte davon und Tausende von Nägeln“, schätzt Dieter Ganser, hat er schon gebastelt. Etwa ein Drittel der vielen Teile muss jährlich ersetzt und erneuert werden, alles ist Handarbeit, früher geleistet von Zimmerleuten, die sich das aber – inklusive einer Gefahrenzulage für die Arbeit über dem Wasser beim Auf- und Abbau – sehr gut bezahlen ließen.


„Schwerstarbeit“, sagt Dieter Setzer, sei der Aufbau im Frühling, in allen Paten-Gemeinschaften braucht es dann die jüngeren Kräfte, es sind Festtage, das ganze Dorf dreht sich dann um zehn Räder. Harte Arbeit, hohe Kosten: So wurden die Räder unrentabel. Als die Landwirtschaft auf Maschinen setzte, waren die Bewässerungskanäle ein Hindernis, Pumpen und Beregnungsanlagen machten sie schließlich überflüssig – nach dem Ersten Weltkrieg verschwanden die Schöpfräder nach und nach, am Ende fast ganz.

Ein Kanapee im Rad


Heute sind sie Kultur- und Technik-Denkmäler, verbunden über einen Rad- und Wanderweg, im Jahr 2020 wurden sie ins bayerische Landesverzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Für die Paten war das eine schöne Auszeichnung, die Wasserradgemeinschaft sucht ständig nach Sponsoren, auch im Sommer gibt es viel zu reparieren. In den Rädern verfängt sich nicht nur Treibholz, manche Leute werfen ja alles Mögliche in den Fluss, einmal war es sogar ein altes Kanapee.


„Bis zum Totalschaden“, sagt Dieter Setzer, kann das führen; er inspiziert die Räder mehrmals wöchentlich und freut sich, wenn er Besuchern etwas erklären kann. Er trifft Spaziergänger, Liebespaare, Picknick-Runden, die Bierbank am Kleinen Schäferrad darf jeder nutzen – manchmal, erzählt Setzer, kommen Studenten, um in der Abgeschiedenheit fürs Examen zu lernen. Es sind kleine Idyllen am Flussufer geworden. Ihrem Horst, sagt Hannelore Wieseckel, würde das sehr gut gefallen.

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