30. März 1971: Veteranin hat 72 Jahre auf dem Buckel

30.3.2021, 07:00 Uhr
30. März 1971: Veteranin hat 72 Jahre auf dem Buckel

© Barth

Dabei genießt Nürnberg in bundesdeutschen Prostituiertenkreisen noch den Ruf, von allen Großstädten der Ort mit dem konstantesten Preisgefüge zu sein. 227 Vertreterinnen – amtlich registriert – zählt das horizontale Gewerbe an der Frauentormauer. Das Alter der Damen liegt zwischen 21 und 72 Jahren. Mit ihnen hat die Polizei kaum Schwierigkeiten, von wenigen Ausnahmen abgesehen.

Dagegen bereitete der Kripo der sogenannte „Hausfrauen-Strich“ einigen Kummer: junge Mädchen, die sich für die bevorstehende Heirat schnell die Aussteuer zusammensparen wollen, Hausfrauen, die Familienschulden abtragen helfen, Frauen, die nicht selten mit Zustimmung ihres Mannes die Haushaltskasse aufbessern. Sie sind nicht nur den Ordnungshütern ein Dorn im Auge.

„Na, Kleiner, wie wär‘s mit uns beiden? 30 Mark.“ Ein wenig scheu, so als habe sie den Satz lange auswendig gelernt und erwarte nun zum erstenmal die Reaktion, flüstert in der Luitpoldstraße ein hübsches, junges Mädchen durch das geöffnete Fenster in einen haltenden Wagen.

Erika (17) weiß nicht einmal, daß sie im „Sperrbezirk“ auf Kundenfang geht und über kurz oder lang von der Polizei aufgegriffen werden wird. Sie ist mit einem Studenten verlobt und möchte so bald wie möglich heiraten. Die Aussteuer hofft sie auf diesem Weg zusammenzubekommen. Der Verlobte weiß nichts von ihrer Nachtschicht. Sie läßt sich von Freiern zur Fahrt an einsame Fleckchen bringen, ohne an das Risiko zu denken, unter Umständen einem Verbrecher in die Hände zu fallen. In der ersten Nacht verdiente sie 180 DM.

Die Kripo: „Außer den jüngsten Neuzugängen kennen wir alle, die auf den Hausfrauen-Strich gehen. In regelmäßigen Abständen greifen wir sie wieder auf.“ Die Erfahrung zeigt nämlich, daß aus dieser gelegentlichen Nebenbeschäftigung in vielen Fällen bald ein Hauptberuf wird. Irene D. (34): „Vor vier Jahren verlor mein Mann seine Arbeit. Ich mußte einspringen. Meinem Mann erzählte ich, ich ginge Putzen, marschierte aber auf dem Wackel. Dann kam mir mein Mann auf die Schliche – und war damit einverstanden. Heute braucht er nicht mehr zu arbeiten.“ Nach dem Strafgesetzbuch bedeutet das schwere Kuppelei. Aber die Frauen wissen das auch inzwischen und erklären der Polizei: „Mein Mann weiß von nichts.“

„...und plötzlich hatte ich den Absprung verpaßt“

Was kann die Polizei gegen die wilde Prostitution tun? Die Amateur-Gunstgewerblerinnen werden angezeigt. In Wiederholungsfällen drohen ihnen Geldstrafen bis zu 1200 DM und in ganz hartnäckigen Fällen Haftstrafen bis zu drei Wochen.

Und wie sieht es bei den Liebesdienerinnen an der Frauentormauer aus? Viele der 227 Damen kommen aus Norddeutschland, während die Kolleginnen aus dem Süden in Hamburg, Frankfurt, Dortmund, Köln oder Berlin ihrer Arbeit nachgehen. – Die Jagd nach dem Geld auf der einen – Verzweiflung auf der anderen Seite. Das ist ihr Alltag. Die „junge Garde“, die das große Geld macht, hat sich ein Limit gesetzt: die einen auf drei, die anderen auf fünf oder sogar auf zehn Jahre, selten mehr. Dann wollen sie zurück ins bürgerliche Leben.

Sonja (29) kommt aus dem Norden. Die gelernte Drogistin, Mutter eines siebenjährigen Kindes, war bis vor zwei Jahren verheiratet. Nach der Scheidung wollte sie schnell zu Geld kommen, um auf eigenen Füßen zu stehen. Ein Freund schaffte ihr in Nürnberg die Verbindung zur Frauentormauer. „Ich wollte das nur zwei Jahre machen. Jetzt bleibe ich aber noch fünf Jahre dabei. Dann mache ich in meiner Heimatstadt eine eigene Drogerie auf.“

400 DM für die Eltern

Ihren Eltern, die glauben, sie arbeite als Drogistin in Nürnberg, schickt Sonja monatlich 400 DM, davon 200 für ihren Sohn. Vielleicht wird sie aber mit der Prostitution ebenso wenig nach weiteren fünf Jahren Schluß machen, wie die 63jährige Waltraud R.: „Ich wollte so lange wie möglich einen Haufen Geld verdienen. Und plötzlich hatte ich den Zeitpunkt zum Absprung verpaßt.“ Heute ist sie auf Gelegenheitskunden angewiesen, um sich über Wasser zu halten. Die älteste Gunstgewerblerin an der Frauentormauer zählt bereits stattliche 72 Jahre.

Auffallend ist, daß gerade bei den jüngeren Dirnen die Mehrzahl schon einmal verheiratet war und Kinder hat. Ilse (32) wurde vor drei Jahren nach 13jähriger Ehe geschieden. Ihr Mann landete in einer Nervenheilanstalt. Ilse stand mit ihren sechs Kindern und einem Berg von Schulden allein da. Sie ging auf die Straße und weiß heute noch nicht, wann sie Schluß machen wird. „Ich mache es so lange wie möglich.“

Die meisten Gunstgewerblerinnen führen ein sehr aufwendiges Leben, das sie nun nicht mehr missen möchten: teuerste Sportwagen, elegante Appartements, kostspielige Urlaubsreisen. Margit (36): „Wenn ich mal wieder heiraten würde, müßte mein Mann mindestens 3000 DM netto verdienen – und dürfte kein Spießer sein.“ Die Prostituierten in Nürnberg selbst verdienen zwischen 3.000 und 10.000 DM.

Nicht unerheblich sind allerdings auch die Unkosten: zwischen 800 und 1.200 DM für das Arbeitszimmer an der Frauentormauer, ferner für Arbeitskleidung, Kosmetika und schließlich Unterstützung von Kindern, Eltern oder „Beschützern“, alles in allem etwa 2.000 bis 3.000 DM monatlich. Von der Steuer sind sie bisher meist verschont geblieben, denn das Finanzamt erhält über die Prostituierten vorn Gesundheitsamt. wo sie zur wöchentlichen Untersuchung registriert sind, keine Auskunft. Die Gesundheitsbehörde verweist auf die Schweigepflicht gemäß § 16 des Gesetzes zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten.

Der Staat will die Prostituierten besteuern und behindert sie gleichzeitig an der Berufsausübung. So auf dem sogenannten „Auto-Strich“ an der Regensburger Straße, Kreuzung Breslauer Straße, wo absolutes Halteverbot verhängt ist. Wenn ein Autofahrer bei einer Dirne anhält, steht gleich ein Streifenwagen der Landpolizei da. Ein einträgliches Geschäft für die Beamten – und wenn auch die „Damen“ verdienen wollen, müssen sie sich auf die Ampel-Phasen einstellen, wenn die Autofahrer halten müssen. Das Geschäft bei Rot läuft aber sehr schlecht: die Zeit ist zu kurz, um handelseinig zu werden.

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