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4. Juni 1971: Großes Zittern in drei Sozialbauten

4.6.2021, 07:00 Uhr
4. Juni 1971: Großes Zittern in drei Sozialbauten

© NN

An dem entsprechenden Gesetzentwurf wird noch gefeilt, aber schon beschleicht Millionen Mieter ein mulmiges Gefühl. Nach Minimalschätzungen sind 3.500 Sozialwohnungen in Nürnberg fehlbelegt. Nach Maximalprognosen sind es sogar mehr als 20.000. Wenn nur eine der beiden Zahlen stimmt, dann wurde seit Jahren offenbar ein gigantischer Schwindel von Amts wegen toleriert.

Sozialwohnungen werden aus Steuergeldern gefördert, damit sozial schwache Bürger eine Wohnung bekommen. Immer noch aber warten Tausende Bedürftige auf die billige Sozialwohnung, während in diesen Wohnungen Mieter mit guten oder sogar sehr guten Einkommen sitzen. Da sind nicht wenige Angestellte, Selbständige, Beamte oder kinderlose Doppelverdiener, die mehr als 2.000 Mark netto im Monat nach Hause tragen und für die Miete nicht mehr als 150 oder 200 Mark abzweigen müssen.

Es ist ein Skandal. Und doch wird man von böswilligem Betrug oder von Schiebung der Behörden kaum sprechen können. Denn die Fehlbelegung von Sozialwohnungen ist eigentlich nur folgerichtig. Stadtrat Herbert Wartha (CSU) vom Haus- und Grundbesitzerverein sagt: „Den sozialen Wohnungsbau gibt es bereits seit 1948. Viele, die damals als arme Schlucker eingezogen sind, sind heute längst über die Mindestverdienstgrenze hinaus.“ Und bei der Stadt erzählt man sich manchmal die Geschichte vom kleinen Studienassessor, der es inzwischen zum Oberstudienrat gebracht hat und immer noch die gleiche Sozialmiete zahlt.

Großes Zittern in den Sozialbauten

Problem Nummer 1: wie sollen die Lebensverhältnisse der Mieter festgestellt werden – Riesiger Verwaltungsaufwand befürchtet – Ein enttäuschter junger Familienvater gibt die Hoffnung auf – „Sozialer Wohnungsmarkt freiweg manipuliert?“

Gerechterweise sollten aber auch zahlreiche Sozialmieter berücksichtigt werden, die nur mit einem geringen Betrag über der Mindestverdienstgrenze liegen. Eine kleine Lohnerhöhung – und das Recht auf die Sozialwohnung wäre verwirkt. Wenn in einer Familie ein Kind zu arbeiten beginnt, müßte die ganze Familie ausziehen. Bei konsequenter Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen wäre eine Kette von Härtefällen die Folge.

Legt man den Fehlbelegungen die vorsichtige Schätzung von WBG-Direktor Dr. Fiedler zugrunde, so müßten eigentlich 3500 Mietparteien ihre Sozialwohnungen räumen. Die Folge wäre ein Chaos. Hugo Seyler vom Mieterverein Nürnberg: „Wenn die rausfliegen, bringen sie den Markt in Unruhe. Woher für sie 3500 andere Wohnungen nehmen? Diese Wohnungen sind ja nicht da. Außerdem würden 3500 Mietparteien den Mietpreis gefährlich nach oben drücken.“

Für Seyler ist klar, daß damit nur den Maklern und Spediteuren geholfen wäre. Was bleibt, ist die Zusatzabgabe, wie sie die Bundesregierung fordert. Der Bund käme zu Geld für neue Wohnungen, der Wohnungsmarkt bliebe ruhiger.

Aber wie soll man feststellen, wer zuviel verdient und deshalb eine Zusatzabgabe zahlen soll? Ein Nürnberger Zeitungsredakteur empört: „Ich lasse mir doch nicht in meine Einkommensverhältnisse gucken!“

Dem hält Bundestagsabgeordneter Hans Batz (SPD) entgegen: auch die, die vom Staat Wohnungsgeld beziehen wollen oder die heute eine Sozialwohnung beantragen, müssen klar ihre Einkommensverhältnisse bekanntgeben. Was aber vom sozial Schwächeren verlangt wird, muß auch für den Bessergestellten gelten.

Auch Hans Batz lehnt es ab, Leute auf die Straße zu jagen. Das sei nicht sozialdemokratisches Gedankengut. Die Lösung des Problems in Form einer Sonderabgabe werde von der jetzigen Koalition schon lange beraten, sei aber von den drei FDP-Ministern bisher verworfen worden. Batz glaubt nicht, daß die Sonderabgabe in allernächster Zeit Gesetzesreife erlangt.

WBG-Direktor Dr. Fiedler befürchtet, daß die Einführung von Sonderabgaben einen Riesenverwaltungsaufwand zur Folge haben würde. Und ein Sprecher des Wohnungsamtes pflichtet ihm bei: durch diesen Aufwand werde das Geld, daß man durch Sonderabgaben zu gewinnen hofft, fast wieder aufgefressen. Trotzdem muß etwas geschehen. Wie wir berichteten, fehlt in Nürnberg für 17 000 Personen der geeignete – deutlicher – erschwingliche Wohnraum.

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