Stadt-Ansichten
Bleiweiß: Vom Arbeiter- zum Familienviertel
06.09.2021, 17:52 Uhr
Wenn man wachen Auges durch die Straßen der Stadt wandert, fallen einem erfahrungsgemäß drei Arten von Gebäuden auf: die, die man als besonders schön oder besonders grässlich empfindet, und die, die irgendwo dazwischenliegen. Mit anderen Worten: Gebäude, die irgendwie bemerkenswert sind.
Das Haus Andreasstraße 17, ein eingeschossiger, traufständiger Bau mit Satteldach und einer Fassade, die völlig mit Holzlatten verkleidet ist, gehört gewiss zu letzter Kategorie. Hinter der rustikalen Front, Ergebnis einer Renovierung mit Hauserweiterung über die Hofeinfahrt gen Westen im Jahre 1983, verbirgt sich ein historisches Gebäude.
Alter Name: "Neue Gasse"
Erbaut bald nach 1895 für den Tapezierer Johann Kellner, wurde es in den 1950er Jahren schon einmal, wenn auch recht zärtlich, modernisiert. Als die Andreasstraße um 1880 angelegt wurde, hieß sie noch „Neue Gasse“ und reichte von der Allersberger bis zur Grenzstraße. Doch als Bleiweiß mit der Muttergemeinde Gleißhammer 1899 ein Teil Nürnbergs wurde, hatte man auf einmal zwei „Neue Gassen“ – nämlich hier und in der Sebalder Altstadt. Die Gasse im Bleiweißviertel zog erwartungsgemäß den Kürzeren, und so ward sie ab dem Jahre 1900 schlicht und ergreifend nach dem männlichen Vornamen Andreas benannt.
Wie Bleiweiß insgesamt war auch die Andreasstraße bis nach dem Zweiten Weltkrieg eine Domäne der einfachen, oft armen Leute. Viele von ihnen verdingten sich als Taglöhner oder Arbeiter in den großen Fabriken der Südstadt und am Dutzendteich. Als „Bleiweßer“ bezeichnete man früher die Bleistiftmacher. Die soliden, aber einfachen Häuser, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts dicht an dicht gebaut wurden, nahmen oftmals Dutzende Bewohnerinnen und Bewohner auf.

Haus Nummer 24 beherbergte die Eckkneipe „Forsthofer Bierhalle“. Dank unserer Leserin Evelyn Weiler, deren Urgroßeltern Elisabeth und Johann Konrad Roth mit ihren Kindern einst in dem zwischen 1895 und 1899 erbauten Anwesen Andreasstraße 15 lebten, haben wir eine Vorstellung davon, wie die kleineren Häuser hier einst ausgesehen haben: Es waren eingeschossige, verputzte Ziegelgebäude.
Einziger Schmuck der Außenfronten waren vorstehende Kellersockel, Traufgesimse und große Holzläden, denen auf dem verschieferten Satteldach Giebelhauben entsprachen.
Daneben gab es ein paar jüngere zweigeschossige Bauten und Rückgebäude mit Mansarddächern. Wer sie wann erbaute, ist durchwegs dem Vergessen anheimgefallen, weil die Gemeinde Gleißhammer es mit der Archivierung von Bauplänen offenbar nicht so genau nahm. Planer und Ausführende werden in allen Fällen Maurermeister aus dem Ort oder den benachbarte n Nürnberger Südstadtteilen gewesen sein.

Als Eigentümer teilten sich die Roths ihr Zuhause mit ihrem Sohn Christian, ihrer Tochter Elisabeth mit ihrem Ehemann, dem Steinmetz Johann Lieb und den Töchtern Dora, Elisabeth und Hedwig, dem Flaschner Georg Stieg, dem Konditor Wilhelm Bruhn, dem Maschinenmeister Konrad Billhöfer, der Färberswitwe Barbara Grohberger und dem Fliesenleger Georg Schmidt und deren Familien. Im Rückgebäude befanden sich die Schreinerei der Roths, die Wohnung der Senior-Inhaber sowie Werkstatt und Zuhause des Schuhmachers Wilhelm Kalbskopf.
Nach der Eingemeindung verdichteten zahlreiche Hauseigentümer an der Andreasstraße ihre Gärten kräftig nach. So auch Christian Roth, der 1897 bis 1898 von Maurermeister Ludwig Hoffmann zunächst ein Waschhaus und 1929 von Architekt Hans Zeitler ein weiteres zweistöckiges Nebengebäude mit neuer Schreinerei und Maschinenraum errichten ließ.
Grüner und lebenswerter
Im Gegensatz zu den ähnlichen Häusern Andreasstraße 11, 15 und 18 blieb nur die holzverkleidete Nummer 17 bis heute stehen. Die Häuser Nummer 19 und 21 sowie Grenzstraße 26 existieren ebenfalls noch, wurden aber nach 1952 stark überformt.
Alle anderen Gebäude fielen den Bomben des Zweiten Weltkrieges oder der nicht völlig unumstrittenen Flächensanierung des Bleiweißviertels 1977 bis 1985 zum Opfer.

Ihr ist es auch zu verdanken, dass die Andreasstraße heute eher wie eine Grundstückszufahrt wirkt, denn wie eine Straße – und dass ihr kompletter westlicher Teil bis zur Allersberger Straße 1986 mit einem Garagenhaus überbaut wurde und damit verschwunden ist.
Dafür sind die Andreasstraße und Bleiweiß insgesamt offener, grüner, ruhiger und lebenswerter geworden. Dort, wo einst die Arbeiter und Handwerker aus dem Viertel ihr Feierabendbierchen tranken, tummeln sich heute Familien mit ihren Kindern auf einem kleinen Spielplatz.
Und wir dürfen mutmaßen, dass sich die Familie Roth, ihre Mieter und Nachbarn im Bleiweißviertel aus der Zeit um 1917 heute hier noch weit wohler fühlen würden als vor nunmehr über einem Jahrhundert.
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