Gefährliche Hochspannung

Nach Stromschlag-Unfall am Rangierbahnhof: Anwohner kritisieren Bahn scharf

23.6.2021, 05:30 Uhr
Blick durch die Lücke: Der Trampelpfad am Doppelmayrweg führt direkt auf das Bahn-Gelände, auf dem am 10. Juni ein zwölfjähriges Mädchen einen lebensgefährlichen Stromschlag erlitt. Experten der Bahn tauschen sich aus, wie das Gelände besser abgesichert werden kann.

© Eduard Weigert, NNZ Blick durch die Lücke: Der Trampelpfad am Doppelmayrweg führt direkt auf das Bahn-Gelände, auf dem am 10. Juni ein zwölfjähriges Mädchen einen lebensgefährlichen Stromschlag erlitt. Experten der Bahn tauschen sich aus, wie das Gelände besser abgesichert werden kann.

Es ist ein typischer Garagenhof für Anwohner im Doppelmayrweg: der Boden versiegelt, links und rechts je eine Front mit geschlossenen Toren. Auf der Stirnseite wuchern Sträucher und Gestrüpp. Doch die grüne Wand hat eine große Lücke. Ein Pfad führt hindurch, dahinter öffnet sich ein weites Gelände mit Schienen, Waggons und Oberleitungen. Ganz unverhofft steht man auf einem Areal der Deutschen Bahn. Weder ein Schild weist darauf hin, noch verhindert ein Zaun den Zutritt. Es ist der sogenannte Vorbahnhof des Nürnberger Rangierbahnhofs im Stadtteil Langwasser. Der rauschende Verkehr der Breslauer Straße, die nur wenige Hundert Meter entfernt ist, mischt sich in die Bahnhofsakustik.

Anwohnerin Jessica Bauer zeigt, wie leicht es ist, auf dieses Gelände zu gelangen. Sie führt den Reporter zu weiteren, ausgetretenen Zugängen auf das DB-Grundstück und sagt, dass am Ende des Vorbahnhofs direkt an der Breslauer Straße sogar ein Tor an der Einfahrt fehlt. "Hier entlang führt auch ein inoffizieller Schulweg", sagt sie. Kinder aus dem Hochhaus beispielsweise (dabei deutet sie auf ein weißes, eingerüstetes Wohngebäude) würden das Gelände als Abkürzung zur Adalbert-Stifter-Schule nutzen. "Hier kommt einfach jeder ungehindert auf das Gelände", empört sich die zweifache Mutter. Sie spricht auch von Jugendlichen, die sich hier abends treffen und Hundehalter, die hier mit ihren Tieren Gassi gehen.

Ein greller Lichtblitz und ein Donnerschlag

Am Abend des 10. Juni war hier auch ein zwölfjähriges Mädchen mit seinem Hund unterwegs - in Begleitung seiner neunjährigen Schwester. Wie berichtet, kletterte das Mädchen auf einen dort abgestellten Güterwaggon, über ihr eine Oberleitung mit einer Hochspannung von 15.000 Volt. Als die Zwölfjährige der Leitung zu nahe kam, passierte das Unglück: Mit einem grellen Lichtblitz und einem Donnerschlag sprang die Hochspannung auf den Körper des Mädchens über. Das Kind erlitt schwerste Verbrennungen, es bestand Lebensgefahr. Mit einem Intensivhubschrauber kam die junge Patientin nach München in eine Spezialklinik. Nach Informationen der Lokalredaktion ist sie heute außer Lebensgefahr.

Am Abend des 10. Juni: Auf diesem Waggon traf ein Lichtbogen der Oberleitung das zwölfjährige Mädchen, das zuvor auf das Dach des Waggons geklettert war.

Am Abend des 10. Juni: Auf diesem Waggon traf ein Lichtbogen der Oberleitung das zwölfjährige Mädchen, das zuvor auf das Dach des Waggons geklettert war. © ToMa

Auch Anwohnerin Bauer hat an diesem Abend gegen 19 Uhr die Explosion und einen schrillen Schrei gehört. Der Knall, sagt sie, war typisch, so einen habe sie schon einmal gehört: Im Oktober 2014, als ein 13-jähriger Junge auch hier einen tödlichen Stromschlag erlitt, nachdem er auf einen Kesselwagen gestiegen war. "Seit dem weiß ich, wie verbranntes Menschenfleisch riecht."

Bundespolizei verschickt Elternbriefe

Mit anderen Anwohnern eilte sie zum Unglücksort, um Hilfe zu leisten. Tage später, zum Zeitpunkt des Gesprächs mit ihr, steht zufällig eine Gruppe Männer an der Unglücksstelle: Vertreter der DB-Netz, der DB-Sicherheit und der für Bahnanlagen zuständigen Bundespolizei. Dem Vernehmen nach ist es das zweite Treffen der Experten nach dem Unglück vom 10. Juni. Es gehe darum, wie die Sicherheit erhöht werden könne, heißt es. Es sei ein Ort, der junge Leute anziehe: Sie machen hier Fotos und posten diese in sozialen Netzwerken, sie hören Musik, trinken oder hinterlassen Graffiti an Waggons.

In der Expertengruppe mit dabei ist Maik Kaiser. Der Polizeihauptmeister ist für Prävention zuständig. Er ist der mahnende Beamte, der im Auftrag der Bundespolizei und der Bahn in die Schulen geht, sich in die Klassen stellt und über die Gefahren berichtet, die rund um und auf Bahnanlagen lauern. Nach dem Unglück am 10. Juni verschickte er Elternbriefe an die gesamten Schulen in Mittelfranken, um auf diese Gefahren aufmerksam zu machen. Er weiß aber auch: Mit Broschüren, Briefen, Faltblättern erreicht man vielleicht noch einige Eltern, Jugendliche aber eher weniger. "Doch jedes Kind, jeder junge Mensch, der so verunglückt, ist einer zu viel", sagt er. Kaiser will neue Wege suchen, um sie zu erreichen - über YouTube, Instagram und Co. Er denkt an Filme, in denen Botschaften transportiert werden, die über Gefahren aufklären. Er denkt an Kinowerbung und Idole von Jugendlichen, die erklären, dass es völlig uncool und lebensgefährlich ist, sich in Gleisbereichen aufzuhalten oder Schienen ungesichert zu überqueren. "Züge nähern sich fast lautlos und haben lange Bremswege."

Bahn bedauert das Unglück

Die Wertevermittlung und die Hinweise auf Gefahren im öffentlichen Leben ist laut Kaiser vor allem Aufgabe der Eltern. "Es ist wie mit der roten Ampel", sagt er, wohl wissend, dass junge Leute trotz Mahnungen das Verbotene auch suchen. Anwohnerin Jessica Bauer kritisiert aber scharf, dass die Bahn schon seit dem tödlichen Unfall von 2014 bis heute augenscheinlich nichts unternommen habe, um diesen Ort besser zu sichern.

Auf Anfrage der Lokalredaktion teilt die Bahn mit, dass sie den Unfall bedauert: ​​​​​​"Unsere Gedanken sind bei dem verletzten Mädchen und ihren Angehörigen", so ein Sprecher. Und weiter: Aufgrund laufender Untersuchungen könne sich die Bahn zu keinen Details äußern.