Lebenshilfe Nürnberg

Selbstbestimmte Wohnformen für Menschen mit Behinderung

15.11.2021, 19:54 Uhr
Besuch bei der Wohngemeinschaft, die in einer Wohnung an der Ziegenstraße lebt: Lebenshilfe-Bundesgeschäftsführerin Jeanne Nicklas-Faust (re.) und Anett Zientz, Leiterin des Teams, das den jungen Leuten hilft, mit einem Bewohner.  

© Stefan Hippel, NNZ Besuch bei der Wohngemeinschaft, die in einer Wohnung an der Ziegenstraße lebt: Lebenshilfe-Bundesgeschäftsführerin Jeanne Nicklas-Faust (re.) und Anett Zientz, Leiterin des Teams, das den jungen Leuten hilft, mit einem Bewohner.  

Die Wohnung an der Ziegenstraße ist zunächst einmal das Reich von vier jungen Menschen, zwei Frauen und zwei Männern, mit Behinderung. Auch wenn das Quartett einen hohen Unterstützungsbedarf hat, verbietet es sich für die Mitarbeiter der Nürnberger Lebenshilfe, einfach aufzusperren und in die Räume zu spazieren. "Wir klingeln und warten, bis uns aufgemacht wird", sagt Anett Zientz. Nur für den Notfall habe man Schlüssel.

Zientz ist Chefin des zirka achtköpfigen Teams, das den Mitgliedern der Wohngemeinschaft im Alltag hilft. Ihr Job beginnt werktags ab 14.30 Uhr, wenn die zwischen 27 und 36 Jahre alten Bewohner von der Arbeit nach Hause kommen. An Wochenenden oder Feiertagen muss rund um die Uhr jemand da sein, nachts schläft ein Betreuer in der Wohngemeinschaft. "Dafür gibt es ein Gästezimmer", sagt die Teamleiterin.

Fahrt zum Möbelhaus

Jeder der Bewohner hat sein eigenes Zimmer. Trotz ihrer geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen sollen die jungen Leute möglichst selbstbestimmt leben können. "Die Einrichtung der Wohnung haben sie sich zum Beispiel selbst ausgesucht, wir sind zusammen zu einem Möbelhaus gefahren", erinnert sich Zientz.

Die seit 2019 existierende WG an der Ziegenstraße ist eines der Projekte, das der scheidende Nürnberger Lebenshilfe-Vorstandschef Horst Schmidbauer gemeinsam mit der aus Berlin angereisten Jeanne Nicklas-Faust, Bundesgeschäftsführerin der Bundesvereinigung Lebenshilfe, besucht.

Das Thema Wohnen steht bei der Tour im Fokus. Schmidbauer sagt, dass viele Menschen mit Behinderung nicht mit 30 oder 35 Jahren noch bei den Eltern leben möchten. In Wohnheimen für Menschen mit Behinderung aber seien die Regeln oft zu starr: Es könne nicht sein, dass ein erwachsener Mensch um 17 Uhr bettfertig gemacht wird, wenn er das nicht möchte, argumentiert Schmidbauer.

Assistent, kein Bestimmer

Nicklas-Faust kommt auf das 2016 beschlossene Bundesteilhabegesetz zu sprechen, in dem es darum geht, Leistungen für Menschen mit Behinderung nicht mehr institutionsbezogen, sondern personenbezogen zu bewilligen. Der entscheidende Begriff sei der der "Assistenz": "Der Betreuer ist der Assistent, nicht der Bestimmer", erklärt Nicklas-Faust. Das könne natürlich zu Problemen führen, sagen die Lebenshilfe-Vertreter – etwa, wenn der Mensch mit Behinderung abends zu einem Konzert möchte und bis tief in die Nacht Begleitung braucht. Das sei mit herkömmlichen Dienstplänen der Betreuer schwer vereinbar, sagt Nicklas-Faust.
"Es ist ein fundamentaler Wandel im Denken", so der stellvertretende Lebenshilfe-Geschäftsführer Detlef Rindt-Ermer. Zudem halten die Vertreter der Lebenshilfe das Gesetz für unterfinanziert. Gleichwohl befürworten sie freilich den Gedanken der Inklusion, der gleichberechtigten Teilhabe der Menschen mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben.

Kleinere Einheiten

Daher hält es Schmidbauer für bedeutsam – obgleich die Lebenshilfe selbst noch zwei größere Wohnanlagen in Nürnberg betreibt – möglichst vielen Menschen das Leben in kleineren Einheiten zu ermöglichen. Die 60-jährige Renate Bukoviny etwa, die im Rollstuhl sitzt, kam dank der Lebenshilfe in einer Wohnung im Sigena-Stützpunkt Mögeldorf an der Ostendstraße unter. Die Lebenshilfe hat dort das Belegungsrecht für sechs Wohneinheiten. Die städtische Wohnungsbaugesellschaft WBG will über die gemeinsam mit Sozialverbänden forcierten Sigena-Projekte (der Begriff steht für "sicher, gewohnt, nachbarschaftlich") Senioren die Möglichkeit geben, in der eigenen Wohnung und im gewohnten Umfeld bleiben zu können. Bukoviny ist zufrieden mit ihrer Situation, sie lebt seit 2017 in dem Stützpunkt – in dem Heim, in dem sie vorher gewohnt habe, habe sie sich nicht wohlgefühlt. „Es gab dort nur Vorschriften“, kritisiert sie.

Ein weiterer, noch sehr frischer Standort der Lebenshilfe ist die Laufamholzstraße. Dort hat man eine Wohnung des Evangelischen Gemeindevereins Nürnberg-Mögeldorf angemietet – nach dem Vorbild der Ziegenstraße, wo ebenfalls der Gemeindeverein der Lebenshilfe die Räume stellt. In der neuen Wohngemeinschaft leben seit Frühjahr 2021 zehn Personen – teils Studierende, teils Menschen mit Behinderung. Die Studierenden, so Rindt-Ermer, leisteten als geringfügig Beschäftigte in der Wohngemeinschaft Betreuungsarbeit, zudem kümmere sich eine hauptamtliche Kraft um koordinierende Aufgaben, zudem kümmere sich eine hauptamtliche Kraft um koordinierende Aufgaben.
Günter Beucker, Vorstand des Gemeindevereins, betont, wie fruchtbar die Kooperation mit der Lebenshilfe sei. "Unsere Kompetenzen liegen in der Senioren- und der Hospizarbeit, weniger in der Behindertenarbeit.“ Man lerne voneinander, betonen Schmidbauer und Beucker.

Reformen auch in den Heimen

In den beiden Wohnheimen der Lebenshilfe an der Langseestraße und der Waldaustraße zum Beispiel sei der Altersschnitt sehr hoch und Sterbebegleitung daher ein wichtiges Thema, berichten Rindt-Ermer und Schmidbauer. Erstmals seit der systematischen Vernichtung von Menschen mit geistiger Behinderung durch die Nazis existiere wieder eine Generation, die ein solches Alter erreiche. "Der älteste Bewohner unserer Einrichtung an der Waldaustraße ist 92 Jahre alt", sagt Rindt-Ermer.
In den beiden großen Häusern gibt es knapp 90 Plätze. Rund 80 Menschen, so Juliane Vogel, stellvertretende Leiterin beim ambulanten Wohnen der Lebenshilfe, betreut der in Nürnberg im Jahr 1961 als Elterninitiative gegründete Verein in verschiedenen kleinen Wohneinheiten in der Stadt.

Keine Zwei-Bett-Zimmer mehr

Der besagte Gedanke der Selbstbestimmung macht aber auch vor den Heimen der Lebenshilfe nicht halt. Schmidbauer kündigt an, dass man die Zwei-Bett-Zimmer auflösen will, jeder soll seinen eigenen Raum haben. Rindt-Ermer wiederum sagt, dass sich die Bewohner bei der Gestaltung der Speisekarte mehr Mitsprache wünschen. Das sei verständlich. "Aber die Umsetzung haben wir noch nicht parat." Daran werde nun gearbeitet.