Tierschutz aus Leidenschaft

Mit Hightech und Herzblut: Fränkischer Verein rettet Rehkitze vor grausamem Tod durch Mähmaschinen

Johannes Lenz

Nordbayern-Redaktion

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15.5.2024, 13:39 Uhr
Sollte ein Muttertier ihr Junges nicht mehr finden oder verstoßen, landet es in der Aufzuchtstation der Rehkitz- und Wildtierhilfe. 

© NEWS5 Sollte ein Muttertier ihr Junges nicht mehr finden oder verstoßen, landet es in der Aufzuchtstation der Rehkitz- und Wildtierhilfe. 

Wenn Gefahr im Verzug ist, reagieren junge Rehkitze immer gleich: Sie kauern sich ganz klein zusammen und legen sich auf den Boden. Ein natürlicher Reflex, der sie vor Fressfeinden schützt. Auf Feldern und Wiesen lauert aber noch eine ganz andere Bedrohung: Gewaltige Mähmaschinen, die alles kurz und klein häckseln, was sich ihnen in den Weg stellt. Wenn sie anrollen, wäre Weglaufen die bessere Alternative - doch die Jungtiere folgen ihrem Instinkt. Für die Fahrer der Traktoren und Mähdrescher ist es quasi unmöglich, die Kitze im hohen Gras auszumachen. Und so nimmt das Unheil seinen Lauf: etwa 100.000 Rehkitze finden jährlich den grausamen Mähtod.

Um den Tieren dieses schreckliche Schicksal zu ersparen, hat sich im Jahr 2021 der Verein "Rehkitz- und Tierhilfe Franken e.V." gegründet. Landwirte und Jäger können den Verein telefonisch oder online kontaktieren, bevor sie eine Wiese mähen. Über ein System auf der Homepage des Vereins übermitteln die Besitzer die genauen Koordinaten ihrer Wiese. Dann beginnt die Arbeit für Simone Schmidt, erste Vorsitzende des Vereins, und ihre Teammitglieder: Sie fahren zur Wiese, spüren die Rehkitze auf, bringen sie während der Mäharbeiten in Sicherheit und lassen sie anschließend wieder frei, damit sie von den Muttertieren wieder abgeholt werden können.

Drohnen als Unterstützung - äußerste Vorsicht bei der Bergung

Weil die Suche nach den Kitzen im hohen Gras der nach der berühmten Nadel im Heuhaufen gleicht, behelfen sich die Vereinsmitglieder modernster Technik: Sie überfliegen die Wiesen mit Drohnen, an denen Wärmebildkameras montiert sind. Frühmorgens, wenn es noch kühl ist und die Wärmebilder deshalb am klarsten sind, suchen sie so nach den Kitzen, wie Schmidt im Gespräch mit "News5" erklärt. Spürt der Drohnenpilot ein Rehkitz oder anderes Wildtier auf, dirigiert er die anderen Teammitglieder punktgenau zum Fundort.

 Für Simone Schmidt ist die ehrenamtliche Tätigkeit mittlerweile zu ihrem Vollzeitjob geworden.

 Für Simone Schmidt ist die ehrenamtliche Tätigkeit mittlerweile zu ihrem Vollzeitjob geworden. © NEWS5

Beim Bergen der Kitze ist höchste Vorsicht angesagt: Schmidt und die anderen Helfer müssen penibelst darauf achten, dass die Tiere keinen Fremdgeruch annehmen. Denn wenn die Mutter Gerüche am Jungtier wahrnimmt, die sie als fremd oder gar bedrohlich empfindet, verstößt sie es womöglich. Die Vereinsmitglieder sorgen deshalb doppelt vor: sie tragen Gummihandschuhe und halten zusätzlich Gras in den Händen, wenn sie die Kitze aufheben.

Die Rehkitze werden für die Dauer der Mäharbeiten in Körben "zwischengelagert". Auch hier ist Vorsicht das oberste Gebot - die Körbe dürfen ausschließlich für diesen Zweck genutzt werden, damit sie keinen Fremdgeruch annehmen. Anschließend werden die Behälter mit den Jungtieren in der Nähe des Fundortes am Rande der Wiese platziert. Wichtig dabei: Ein fester Untergrund und ausreichend Schatten. Außerdem müssen die Körbe mit einer Holzplatte oben verschlossen werden, damit die Kitze nicht wieder ausbüxen und zurück auf die Wiese flüchten, bevor die Mäharbeiten beendet sind.

Aufzucht als letzter Ausweg

Nachdem die Jäger oder Landwirte ihre Wiese gemäht haben, lassen Simone Schmidt und ihr Team die Kitze in der Nähe ihres Fundortes wieder frei. Dann tickt die Uhr: etwa 24 Stunden lassen sie dem Muttertier Zeit, ihr Junges wieder abzuholen. In den allermeisten Fällen funktioniert das reibungslos und die Tiere sind wieder vereint. Manchmal kommt es aber doch vor, dass die Geiß ihr Kitz nicht rechtzeitig findet oder es aufgrund eines Fremdgeruches verstößt. Dann müssen die Vereinsmitglieder in Absprache mit einem Jäger eine Entscheidung treffen: Geben sie dem Muttertier länger Zeit, oder müssen die das Kitz aufnehmen, etwa wenn es noch sehr jung ist und ansonsten zu verhungern droht?

Und so landen Rehkitze in seltenen Fällen in der Aufzuchtstation des Vereins in Wasserzell bei Spalt. Aktuell befinden sich in dort elf Kitze. Nicht alle sind nach der Rettung vor den Mähmaschinen von der Geiß zurückgelassen worden - manche haben ihr Muttertier auch bei einem Wildunfall oder auf anderem Wege verloren. Aber auch erwachsene Tiere nimmt der Verein auf. Außerdem treffen die Kitze dort nicht nur auf Artgenossen, sondern auch auf andere Wildtiere wie Fuchswelpen, Feldhasen oder sogar Waschbären. "Voller Herzblut" setze man sich "für verletzte und verwaiste Wildtiere in Franken, Bayern und sogar ganz Deutschland ein", heißt es auf der Website des Vereins.

Flaschenzeit, Scheuentwicklung, Auswilderung

Altersabhängig erfahren die Rehkitze in der Aufzuchtstation eine mehr oder minder intensive Betreuung. Im ersten halben Jahr bekommen die Jungtiere noch mehrmals täglich die Flasche. In dieser Zeit dient die Person, die ein Kitz füttert, auch als Mutterersatz. "Danach versuchen wir, den Kontakt so gering wie möglich zu halten", erklärt Simone Schmidt - schließlich müssen die Tiere vor ihrer Auswilderung wieder eine Scheu entwickeln und ihre Bindung zum Menschen ablegen.

Im Frühjahr des Folgejahres, in dem sie in der Aufzuchtstation gelandet sind, werden die Rehkitze wieder ausgewildert. Dabei werden sie erst mit einem Gewehr oder einem Blasrohr betäubt. Ein notwendiger Schritt, wie Schmidt weiß: "Wir müssen das machen, das sind ja Wildtiere. Die kommen nicht einfach her. Für die Kitze ist das wie eine Narkose. Vor Ort lassen wir die Tiere dann wieder aufwachen und entlassen sie in die Freiheit."

Tierhilfe aus Leidenschaft

Simone Schmidt und die anderen Vereinsmitglieder haben mit der Rettung und Aufzucht der Wildtiere alle Hände voll zu tun. Das Arbeitspensum ist mittlerweile so groß, dass Schmidt sich der Aufgabe seit diesem Jahr in Vollzeit widmet - ihren alten Job in der Gastronomie hat sie hinter sich gelassen. Auf seiner Homepage schreibt der Verein sogar, dass man derzeit eine weitere Voll- oder Teilzeitkraft einstellen möchte, um das hohe Pensum bewältigen und die Kapazitäten der Aufzuchtstation ausbauen zu können.

Aktuell sucht der Verein nach Möglichkeiten, Schmidts Vollzeittätigkeit zu finanzieren. Denn die Tierkitzrettung arbeitet rein ehrenamtlich und ist auf Spenden angewiesen. Trotz dieser schwierigen Situation und des hohen Aufwands bereut Simone Schmidt ihr Engagement nicht - sie ist der Meinung, dass nicht nur Hunde und Katzen, sondern eben auch Wildtiere versorgt werden müssen. Und das tut sie mit aller Leidenschaft, wie sie versichert: "Das ist mein Leben geworden."

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