Behindertes Kind: Flüchtlingsfamilie darf nicht umziehen
02.05.2020, 21:15 UhrEs ist ein ungewöhnlicher Hilferuf, der unsere Redaktion am 8. April erreicht. Nicht, weil das Anliegen fragwürdig erscheint, sondern weil es nicht die Hilfesuchenden selbst sind, die die E-Mail verfasst haben. Doch Edith Stengel ist frustriert, weiß sich nicht mehr anders zu helfen, als "über die Zeitung zu gehen", schreibt sie. "Jetzt ist das Maß voll", stellt sie wütend fest. Sie fühlt sich schikaniert, einer Hinhaltetaktik der Behörden ausgeliefert.
Dabei will Stengel einfach nur das Einfamilienhaus ihrer Schwiegermutter in Treuchtlingen vermieten. Die betagte Dame musste ins Seniorenheim ziehen, die Vermietung soll es den Angehörigen erleichtern, die Pflegekosten zu schultern. Das Häuschen ist schon etwas in die Jahre gekommen, wurde noch zu Adenauers Zeiten das letzte Mal renoviert. Kein Luxus also. Potenzielle Mieter melden sich bei Stengel trotzdem genug – darunter das Ehepaar Aminat Gabaeva und Adam Barigov, das die Immobilie im Februar besichtigt.
Auf den Rollstuhl angeweisen
Die Eheleute kamen als Flüchtlinge aus Tschetschenien nach Deutschland und leben seit Oktober 2013 in einer staatlichen Gemeinschaftsunterkunft in Treuchtlingen. Der Mann arbeitet bei einer Weißenburger Firma am Band, die Frau kümmert sich um die drei Kinder. "Natürlich hätte ich das Haus anderweitig vermieten können, aber bei dieser Familie könnte ich eben noch dazu ein gutes Werk tun", sagt Edith Stengel. Gabaeva und Barigov wollen raus aus der Gemeinschaftsunterkunft, die seit fast sieben Jahren ihr Zuhause ist.
Grund dafür ist vor allem die schwere Behinderung ihres ältesten Kindes, Sohn Daud. Der Achtjährige sitzt im Rollstuhl, braucht ständige Betreuung. Schon 2016 beantragte die Familie daher bei der Regierung von Mittelfranken, sich eine neue Bleibe suchen zu dürfen. Als geduldete Asylbewerber müssten die Fünf eigentlich weiterhin in der Gemeinschaftsunterkunft wohnen, wegen der besonderen Umstände erlaubte die Bezirksregierung ihnen aber, sich auf dem privaten Wohnungsmarkt umzusehen.
Das Duschen ist eine Qual
Besonders problematisch an den derzeitigen Wohnverhältnissen ist aus Sicht der Familie das Bad, das zu ihrer Zweizimmerwohnung gehört. Es verfügt lediglich über eine enge Duschkabine, eine Badewanne gibt es nicht. Um in die Dusche zu gelangen, muss noch dazu eine hohe Schwelle überwunden werden. "Das ist viel zu eng, die Mutter muss das behinderte Kind in die Dusche heben, es kann ja nicht einmal allein sitzen", berichtet Valentina Schild aus dem beschwerlichen Alltag. Da sie selbst russisch spricht, unterstützt sie die Familie ehrenamtlich, etwa bei Behördengängen.
Trotz der geschilderten Probleme sprach die Bezirksregierung in einer ersten Stellungnahme zu dem Fall gegenüber unserer Zeitung noch von einer "behindertengerechten Dusche". Nach der Durchsicht von Bildern des Badezimmers hat die Behörde diese Darstellung jedoch mittlerweile zurückgenommen.
Schild erzählt, dass auch die anderen beiden Kinder der Familie Verhaltensauffälligkeiten zeigen: "Der jüngere Sohn, Seifula, hat Autismus und läuft manchmal einfach weg." Die Tochter sei vier Jahre alt – und spreche noch immer kaum ein Wort. Im Mai 2019 büxte der fünfjährige Seifula aus und schaffte es bis zum Treuchtlinger Bahnhof. Dort wurde er schließlich von Polizeibeamten aufgegriffen.
Zu klein, zu groß, zu teuer
"Er kann im Moment einfach weglaufen, nichts hält ihn auf. Im Haus von Frau Stengel wäre es besser, da ist ein großes Hoftor, das man abschließen kann", gibt Schild zu bedenken. Dort gibt es auch eine Badewanne, an der man einen Lifter installieren könnte. Die Körperpflege von Daud würde für die Mutter damit weit weniger mühevoll.
Historisches Urteil: Klimaflüchtlinge haben Recht auf Asyl
Doch woran scheitert der geplante Umzug nun? Warum dürfen Aminat Gabaeva und Adam Barigov mit ihren Kindern nicht ausziehen – obwohl die Bezirksregierung dafür doch grundsätzlich grünes Licht gegeben hat? Hier kommt das am Landratsamt Weißenburg-Gunzenhausen angesiedelte Sozialamt ins Spiel. Endgültig umziehen darf die Familie nämlich erst, wenn sie eine Unterkunft gefunden hat, die das Sozialamt hinsichtlich Größe und Quadratmeterzahl als sozialrechtlich angemessen beurteilt.
Das ist bereits bei anderen Immobilien in der Vergangenheit gescheitert. Ein Objekt beurteilte das Sozialamt schon im Juni 2018 als zu klein – und damit nicht als ausreichende Verbesserung der bisherigen Wohnsituation. Eine weitere Wohnung, die die Familie im November 2018 hätte beziehen können, bewertete die zuständige Sachbearbeiterin als zu teuer.
84 Euro fehlen zum Glück
Frustrierend für das Ehepaar, das sich nach einer neuen Bleibe sehnt. Doch jetzt, mit dem Haus von Edith Stengel, schien das Problem gelöst. Die Kaltmiete ist mit 700 Euro recht moderat, zudem hat ein Mitarbeiter des Landratsamtes die Immobilie Mitte März besichtigt und als bestens geeignet für die Bedürfnisse der Familie beurteilt. Seither sind jedoch einige Wochen vergangen, auf ein offizielles Schreiben der Behörden, das beantworten sollte, ob sie in das Haus nahe der Treuchtlinger Stadtmitte einziehen darf, wartete die Familie vergeblich.
Erst am 22. April, nachdem sich unsere Redaktion mit Fragen zu dem Sachverhalt an Bezirksregierung und Sozialamt gewendet hatte, bekam das Ehepaar schwarz auf weiß, was es längst befürchtet hatte: Antrag abgelehnt. Das Sozialamt teilt dazu mit: "Die verlangte Kaltmiete von 700 Euro zuzüglich der Nebenkosten von 110 Euro (mithin insgesamt 810 Euro) übersteigen die Angemessenheitsgrenze von 726 Euro." 84 Euro pro Monat trennen die Familie damit von ihrer Wunschimmobilie. Dabei hatte Vermieterin Edith Stengel die Kaltmiete bewusst relativ niedrig angesetzt. "Andere Interessenten hätten das Haus auch zu einem höheren Preis genommen, aber das wollte ich nicht", sagt sie. Doch mittlerweile gerät auch Stengel in Bedrängnis, schließlich laufen die Heimkosten für die Schwiegermutter bereits, Mieteinnahmen hat sie aber noch immer nicht.
Chance auf Einigung?
Juristisch ist das Vorgehen der Behörden wohl nicht zu beanstanden, doch die Entscheidung des Sozialamtes trifft die Familie hart. Dort betont man indes, dass wegen des schwerbehinderten Sohnes "die Grenzen bezüglich der Größe und des Preises angemessen angehoben" worden seien. Mehr ist nach aktuellem Stand nicht drin. Noch wollen Animat Gabaeva, Adam Barigov und ihre Kinder den Traum vom behindertengerechten Haus aber nicht endgültig begraben. Vermieterin Stengel zeigt sich gesprächsbereit, erwägt, die Kaltmiete abermals leicht zu senken, um den Einzug allen Widrigkeiten zum Trotz zu ermöglichen.
Vielleicht, so die Hoffnung, kann es doch noch zu einer kulanzbasierten, unbürokratischen Einigung mit dem Sozialamt kommen. Die Freude der fünfköpfigen Familie dürfte in diesem Fall keine Grenzen kennen.
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