Deutsch, fränkisch, jüdisch - eine Treuchtlinger Familie
29.11.2016, 06:05 Uhr
Regina Mayer überlebt. Ihrer Familie gelingt es 1939, nach Palästina zu fliehen. Die Familien ihrer Onkel Nathan und Gustav Fulder werden 1943 in Auschwitz ermordet. Ihr Großvater Bernhard Fulder stirbt im französischen Internierungslager Gurs. Er war der letzte jüdische Lehrer Treuchtlingens.
Lior Kanner ist Bernhard Fulders Ur-Urenkel und der Sohn von Regina Mayers Schwester Mirjam. Lange wusste der 33-jährige Sozialwissenschaftler wenig über die Geschichte seiner Familie. Bis er auf das Buch „Jüdisches Leben in Treuchtlingen“ des verstorbenen Verlegers Walter E. Keller stieß. Die 180-seitige Chronik des einst blühenden jüdischen Lebens in der Altmühlstadt hat inzwischen sogar den Weg bis in die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem gefunden.
Auf Einladung der Witwe des Autors und Sprecherin des Arbeitskreises „9. November“, Christel Keller, sprach Kanner nun in der Treuchtlinger Stadtbücherei vor rund 30 Besuchern über seine Wurzeln und das Schicksal der „Treuchtlinger Familie, deutschen Familie und jüdischen Familie“ Fulder/Mayer.
„Man lernt die Geschichte der Juden ja fast immer nur ab dem Holocaust“, bedauert Kanner. Umso spannender sei es für ihn gewesen, die Vergangenheit seiner Familie bis ins späte 18. Jahrhundert zurückzuverfolgen. „Die Juden waren vor dem Holocaust über Jahrhunderte Teil der Gesellschaft. Ihre Spuren sind überall in der Region zu finden“, so der Gast aus Israel (beziehungsweise der Schweiz, wo Kanner seit einem Jahr mit seiner Frau lebt). „Dass ich heute hier stehe, ist ein Teil der Geschichte der Familie Fulder und ganz Treuchtlingens.“
In die Altmühlstadt zieht der 1866 bei Karlstadt geborene Hauptlehrer Bernhard Fulder mit seiner Frau Ida und den vier Kindern 1911. Zuerst wohnen sie in der Heinrich-Aurnhammer-Straße 3, dem heutigen Atelier Raab, wo damals die „israelitische Schule“ untergebracht ist. Dort unterrichtet Fulder 22 Jahre lang. In der jüdischen Gemeinde genießt er hohes Ansehen – „fast wie ein Rabbiner“, wie Kanner sagt. Erhalten geblieben ist unter anderem seine detaillierte Beschreibung des Friedhofs, entstanden wohl in der Absicht, die Traditionen der schwindenden Gemeinde für die Nachwelt zu dokumentieren.
Mitte der 1930er Jahre schließen die Nationalsozialisten die Schule und setzen die Familie vor die Tür. Die folgenden Jahre wohnen die Fulders im Stadtschloss, bevor Bernhard und Ida 1938 nach Gurs deportiert werden. „Der Lehrer Fulder war ein ganz freundlicher Mensch“, erinnert sich die Zeitzeugin Sophie Roth. Er habe „oft im Schlosshof seine Runden gedreht“.

Bereits 1930 heiratet Fulders Tochter Jenny den Treuchtlinger Großhändler Albert Mayer. In dessen einstigem „Judenstadel“ befindet sich heute die Stadtbücherei. Das Wohnhaus der Mayers ist eine Villa in der Wettelsheimer Straße 61. „Nach dem Pogrom mussten die Kinder der Familie abends immer mit Schuhen ins Bett“, weiß Roth noch zu berichten. Man wollte stets fluchtbereit sein.
Nur wenige überleben
Das tun die Mayers 1939 dann auch. Über die Niederlande und Frankreich gelangen sie nach Palästina. Dort stirbt Albert Mayer 1949 im Alter von 61 Jahren – möglicherweise an den Folgen der Haft im KZ Dachau, in das ihn die Nazis zusammen mit seinem Bruder Moritz nach dem Novemberpogrom 1938 vorübergehend verschleppt haben. An die ermordete Familie seines Schwagers Gustav Fulder (mit Ausnahme der ältesten Tochter Ruth, die mit einem „Kindertransport“ nach England kommt) erinnern heute vier „Stolpersteine“ vor deren letzter Wohnung in der Bochumer Straße in Berlin.
Ihre Töchter Regina und Mirjam bringt Jenny Mayer als Näherin durch. Schon in Treuchtlingen hatte sie in der Heinrich-Aurnhammer-Straße 4 ein „Mass-Geschäft für Wäsche jeder Art“. 1978 stirbt sie in einem Kibbuz in Israel. Sie hinterlässt 14 Enkel. Einer davon ist Lior Kanner.
Bemerkenswert ist, dass sich der 33-Jährige trotz des Wissens um die Verfolgung und Ermordung seiner Vorfahren neben der israelischen bewusst für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden hat. „Für mich selbst wusste ich immer, dass ich Teil dieses Landes und seiner Geschichte bin“, sagt er bei seinem Vortrag in Treuchtlingen. Der Kontakt zu Christel Keller und dem Arbeitskreis „9. November“, der sich seit über 25 Jahren in der Altmühlstadt für Erinnerung und Versöhnung einsetzt, bestätige ihn darin.
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