Verfassungsschutz beobachtet das Vorgehen

Neue Masche: Wie Reichsbürger versuchen an Querdenker-Eltern heranzukommen

28.11.2021, 05:55 Uhr
Seit diesem Jahr versuchen sogenannte Reichsbürger die Pandemie und die dadurch entstandene Unsicherheit für ihre Zwecke zu nutzen. 

© Fabian Sommer, NN Seit diesem Jahr versuchen sogenannte Reichsbürger die Pandemie und die dadurch entstandene Unsicherheit für ihre Zwecke zu nutzen. 

Auf den ersten Blick wirkt die Webseite fast harmlos: Eine kleine Glühbirne mit aufgemaltem lächelndem Gesicht und Doktorhut, darunter eine "herzliche" Begrüßung inklusive des Versprechens in der sogenannten BSD Schule einen "individuellen Lernprozess" zu unterstützen. Eine gut klingende Anrede an jene Eltern, die derzeit mit dem Schulsystem und den dort geltenden Corona-Maßnahmen nicht einverstanden sind. Denn auf sie hat es die Reichsbürgergruppierung "Verfassunggebende Versammlung" (VV) abgesehen.

Bereits seit Pandemiebeginn registriert der Bayerische Verfassungsschutz mehr Bewegung in der Szene: Während der Corona-Krise würden sich die Verschwörungstheorien von Reichsbürgern stärken verbreiten, stellten die Sicherheitsbehörden Ende 2020 fest. Neu sei in diesem Jahr, dass sogenannte Reichsbürger versuchten, den durch Corona bedingten Schulausfall für ihre Zwecke zu nutzen und private Lernkreise für ihre Ideologie aufzubauen.

Um etwa an Corona-skeptische Eltern heranzutreten, bedienen sie sich entsprechender Narrative: "Die Argumentation bezieht sich häufig auf die Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen hinsichtlich Corona-Hygienemaßnahmen und Impfungen", schreibt das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz auf Anfrage unserer Redaktion. So werden beispielsweise "emotionale Aufrufe zum vermeintlichen Schutz der Kinder vor angeblich unrechtmäßiger und gesundheitsschädlicher Behandlung verbreitet" sowie "martialische Erzählungen, wonach Kinder durch das Tragen von Masken ohnmächtig werden oder langfristige körperliche und psychische Schädigungen davon tragen oder gar sterben".

Telegram wird als Kommunikationskanal genutzt

Die Recherche unserer Redaktion bestätigt dies: In einschlägigen Chatgruppen bei dem Nachrichtendienst Telegram - auch für die hiesige Region -, in denen sich Eltern austauschen, die die Corona-Impfungen sowie die Testungen an den Schulen ablehnen, finden sich derartige Erzählungen täglich. Vom wem sie stammen und welcher Antrieb dahinter steckt, ist wegen der Anonymität allerdings kaum feststellbar. Immer wieder tauchen dort auch Beiträge des Magazins Compact auf, das vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft wird. Dazwischen vermischen sich Nachrichten besorgter Eltern, Verschwörungstheorien und Texte, die eindeutig der Reichsbürger-Szene zugeordnet werden können, wie dieser: "Es gibt keine Schulpflicht, weil das Grundgesetz der BRD seit 1990 durch die Streichung des territorialen Geltungsbereich ungültig gemacht wurde."

In den Gruppen wird auch für die teils dubiosen Lerngruppen geworben. Längst nicht alle können der Reichsbürger-Szene zugeordnet werden, doch es gibt sie, wie ein Fall aus Oberbayern zeigte: Dort wurde kurz nach Ende der Sommerferien in der Gemeinde Schechen, Landkreis Rosenheim, eine illegal betriebene Schule von den Behörden geschlossen. Rund 50 Kinder waren dort unterrichtet worden.

Nur wenig später wurde bekannt, dass sich auch der Verfassungsschutz eingeschaltet hatte: Für die hinter der Schule stehende russische Stiftung "Freiheit braucht Mut" gebe es "hinreichend gewichtige Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, welche dem Phänomenbereich Reichsbürger und Selbstverwalter zuzuordnen sind", schreibt das Landesamt für Verfassungsschutz auf Nachfrage. Die Verantwortlichen für die Stiftung seien den Behörden bekannt.

Die Frau, die für die Schule als Schulleiterin auftrat, war laut Recherchen des Bayerischen Rundfunks eine verbeamtete und seit der Pandemie krankgeschriebene Grundschullehrerin. Sie hatte sich für die Schulgründung auf russisches Recht berufen und das Schulgelände - ein alter Bauernhof - als russisches Territorium ausgerufen.

Auch digitale Schul-Angebote von Reichsbürgern

Doch nicht nur über reale Schulen vor Ort versucht die Szene an Eltern heranzutreten, zeigt die zunächst harmlos wirkende Webseite der Reichsbürgergruppierung Verfassungsgebende Versammlung (VV) mit der lächelnden kleinen Glühbirne: "Die VV hat eine digitale Lernplattform entwickelt, die als Alternative zum staatlichen Schulsystem fungieren soll", heißt es vom Bayerischen Verfassungsschutz, der die Aktivitäten bereits im Blick hat. Laut der VV steht die Abkürzung BSD-Schule für "Bildung Spielend Downloaden" - die gleiche Abkürzung wird allerdings auch für "Bundesstaat Deutschland" genutzt.

Die Gruppierung VV vertritt das Ziel, eine eigene Verfassung auszuarbeiten und zu etablieren, die dann in ihrem sogenannten "Bundesstaat Deutschland" gültig sein soll. Das Grundgesetz hat aus Sicht der VV dagegen keine Gültigkeit. Das wird auch auf ihrer Webseite deutlich: Wer seine Kinder zu der "Ergänzungsschule" anmelden möchte, muss sich sowie sein Kind erst im Bundesstaat Deutschland registrieren.

Lerngruppen als Schlupfloch

Doch nicht immer sind die politischen Absichten der Angebote so deutlich wie in diesem Fall: Im Zuge der vielen aufkeimenden Lerngruppen rückt auch der Österreicher Ricardo Leppe, selbsternannter Lerncoach und Präsident des Vereins "Wissen schafft Freiheit", zunehmend in den Fokus. Auch für Mittelfranken betreibt der Verein einen Lerngruppen-Chat bei Telegram mit rund 340 Mitgliedern, zeigen Recherchen unserer Redaktion. In seinen Videos spricht sich Leppe dafür aus, Eltern und Kinder selbst entscheiden zu lassen, ob sie ihr Kind in staatliche Schulen schicken, in alternative Angebote oder gar Zuhause unterrichten.

Dabei unterstützt er unter anderem das Konzept der Schetinin-Schule, das der teils rechtsradikalen und völkischen Anastasia-Bewegung als Vorbild dient. Eigene Bildungseinrichtungen soll es laut Vereinswebseite aktuell aber nicht geben: "Wir gründen derzeit keine Schulen, da unsere Pläne 2020 durch die Regierung zunichte gemacht wurden", heißt es dort.

Tatsächlich gab es entsprechende Vorhaben bereits in der Vergangenheit: Laut dem bayerischen Kultusministerium wurden im Juli 2019 sowie im Juni 2020 in Unterfranken entsprechende Anträge abgelehnt. Gleiches gilt für das Vorhaben einer Initiative für die Gründung einer Modell-Schule 2021. Im Nachhinein wurde zudem bekannt, dass einzelne Mitglieder der Querdenker-Szene zuzurechnen seien, so die Behörde weiter.

Eben wegen dieser rechtlichen Hürden für neue Schulgründungen werden vielerorts nun alternativ Lerngruppen ins Leben gerufen - sozusagen ein Schlupfloch. Denn während private Ersatzschulen den jeweiligen Landesgesetzen unterliegen und auch nur mit staatlicher Genehmigung betrieben werden dürfen, gibt es für Lerngruppen fast keine Auflagen - sofern die Kinder weiter in die "normale" Schule gehen.

Eine Überprüfung durch die Behörden kann aber auch bei ihnen stattfinden, stellt das Bayerische Kultusministerium klar: "Insbesondere bei sogenannten Lern-Oasen wird geprüft, ob es sich um eine ohne erforderliche Genehmigung betriebene Schule handelt", erklärt ein Sprecher, bei Rechtsverstößen könne der Betrieb untersagt werden. Vom Verfassungsschutz heißt es zudem, man habe sogenannte "alternative Schulen" und mögliche Verbindungen in die Reichsbürger-Szene im Blick.

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