Mit.Menschen Podcast

Holocaust-Überlebender Abba Naor - Zwischen Todesmarsch und Lebensfreude

15.7.2021, 06:28 Uhr
Gut gelaunt trafen sich VNP-Volontärin Isabella Fischer und Abba Naor zum Podcast-Gespräch.

© Karl Freller Gut gelaunt trafen sich VNP-Volontärin Isabella Fischer und Abba Naor zum Podcast-Gespräch.

Sein älterer Bruder wurde erschossen, als er das Ghetto verlies, um Brot zu kaufen. Sein kleiner Bruder, fünf Jahre alt, sowie seine Mutter kamen im Konzentrationslager um. Er selbst überstand das Ghetto, mehrere Konzentrationslager, die Zwangsarbeit sowie im Frühjahr 1945 den Todesmarsch. Und trotzdem sagt Abba Naor, mit seinen 93 Jahren noch sehr fit und einem freundlichen Grinsen im Gesicht: "Das Leben ist eine feine Sache."

Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 begann der Massenmord an der jüdischen Bevölkerung. Naor war zu diesem Zeitpunkt 13 Jahre alt, als er mit seiner Familie in das Ghetto seiner litauischen Heimatstadt Kaunas deportiert wurde. Mit 20 Familienmitgliedern lebten sie fortan in zwei Zimmern. "Ich musste schnell erwachsen werden", erzählt Naor im Podcast Mit.Menschen. Halt gab ihm sein zweijähriger Bruder Berale, um den sich Abba aufopfernd kümmerte und den er als das Licht der Familie bezeichnet. "Nichts hat mich mehr interessiert als dieser kleine Junge. Schon in der Schule habe ich die Hausaufgaben für den nächsten Tag gemacht, um mehr Zeit mit ihm verbringen zu können", erzählt er. Nach einer kurzen Gesprächspause fügt Naor leise hinzu: "Leider hat dieses Leben nicht lange gedauert."

Das Leben seines älteren Bruders Chaim endete mit nur 15 Jahren. Hunger war im Ghetto an der Tagesordnung, es gab keine Geschäfte, doch das Essen musste irgendwo her kommen. So schickten die Familien ihre Kinder zum Einkaufen in die umliegenden Dörfer - obwohl sie das Ghetto nicht verlassen durften. "Die Eltern dachten sich, dass sie bestimmt keine Kinder töten würden, deswegen wurde mein Bruder mit Gleichaltrigen losgeschickt. Ich war anfangs noch böse, warum ich nicht mitdurfte", erinnert sich Naor. Im Nachhinein rettete das Zuhause-Bleiben sein Leben. Sein Bruder und die anderen Kinder wurden erwischt und noch am selben Tag erschossen. Warum? "Man braucht kein Warum, um einen Juden zu erschießen. Wir waren Freiwild. Jeder konnte mit uns machen was er will", sagt er.


Mit.Menschen: IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch, eine Kindheit unter dem Hakenkreuz


Die Jahre im Ghetto und in den Konzentrationslagern Stutthof bei Danzig und Kaufering, einem Außenlager des KZ Dachau, bezeichnet er als eine Mischung aus "Mord und Totschlag, Hunger, Angst und sich verstecken". Als die Kinderselektion in das KZ Auschwitz begann, versteckte die Familie den kleinen Bruder Berale im Kachelofen. "Er wusste, was zu tun ist. Er musste ruhig bleiben. Nur so gelang es uns, ihn bis Mitte 1944 zu behalten." Doch am Ende war jede Mühe vergebens, Berale und die Mutter Chana wurden nach Auschwitz-Birkenau abtransportiert und wurden dort umgebracht.

Trotz allem - Aufgeben war für Naor nie eine Option. "Ich habe nie an Selbstmord gedacht. Soll ich meinen Henkern den Gefallen tun und ihnen die Arbeit ersparen? Da muss ich doch blöd sein. Ich wollte nicht sterben", sagt er, der Trotz in seiner Stimme klar erkennbar. Während des Gesprächs macht Naor immer wieder Pausen, überlegt, wie er das Unvorstellbare in Worte packen kann.


Experten sind alarmiert: Immer mehr Antisemitismus in Franken


Aufgeben wollte er nie, doch die Aufarbeitung des Erlebten fiel ihm jahrzehntelang schwer. "Ich hatte Todesangst, ich konnte nicht darüber reden", sagt er rückblickend. Das änderte sich, als er den Mut fand, 1990 zum ersten Mal vor einer Schulklasse zu sprechen und den Schülerinnen und Schülern von seinem Leben zu erzählen. Den Dialog mit der jüngeren Generation hat er sich seitdem zu seiner Lebensaufgabe gemacht. 30 Jahre später besucht er immer noch regelmäßig Schulklassen, auch in Nürnberg und Schwabach ist er ein gern gesehener Gast. Die Jugend gebe ihm Kraft, auch wenn das Verarbeiten mit den Jahren immer schwerer und die Nächte kürzer werden, so Naor. "Ich werde noch gebraucht. Und solange ich rede, ist meine Familie lebendig. Es ist ja sonst niemand mehr da, der sich erinnern kann."

Von den Kindern erhofft er sich, "dass sie mir zuhören. Ich bin mir sicher, die Kinder mit denen ich spreche, die werden keine Antisemiten sein. Die werde mithelfen, Antisemitismus zu bekämpfen. Denn er war immer da und er wird auch immer da sein. Warum? Weil wir Juden immer da sein werden. Man kann uns nicht vernichten", sagt er.

Doch das wichtigste, das Abba Naor den Kindern mit auf dem Weg geben möchte: "Das Leben ist eine feine Sache. Macht das Beste daraus."

Verwandte Themen


1 Kommentar