Fehlinterpretation

"Man darf ja nichts mehr sagen!": Wenn Menschen keine Ahnung haben, was Meinungsfreiheit ist

Christian Urban

Redakteur - nordbayern.de

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28.2.2024, 05:54 Uhr
Viele Menschen berufen sich auf die Meinungsfreiheit, meinen dabei aber etwas völlig Anderes. (Symbolbild)

© Hans-Joachim Winckler Viele Menschen berufen sich auf die Meinungsfreiheit, meinen dabei aber etwas völlig Anderes. (Symbolbild)

Wenn wir auf nordbayern.de oder unseren Facebook-Seiten Kommentare zurückweisen oder User wegen eines Verstoßes gegen die Netiquette - häufig in Form von Hassrede, Hetze und der Verbreitung von Verschwörungsmärchen - sperren, kommt es vor, dass wir von dem Gesperrten eine Mail bekommen. In dieser wird nicht selten auf das "Recht auf freie Meinungsäußerung" hingewiesen - ebenso wie auf die Tatsache, dass dieses Recht ja sogar als Artikel 5 im Grundgesetz festgeschrieben ist.

Bereits seit einigen Jahren ist in den sozialen Netzwerken zu beobachten, dass sich Menschen vermehrt auf dieses Grundrecht berufen und der Meinung sind, dass selbst die widerwärtigsten verbalen Tiefschläge dadurch gedeckt seien - nicht selten flankiert von einem dramatisch-weinerlichen "man darf ja nichts mehr sagen in diesem Land!". Dabei zeigen diese Menschen drei Dinge: Dass sie nicht wissen, wie es ist, wirklich nichts mehr sagen zu dürfen (siehe das Schicksal des Kremlkritikers Alexej Nawalny), dass sie Meinungsfreiheit sagen, in Wirklichkeit aber "Widerspruchsfreiheit" meinen - und dass sie nicht die geringste Ahnung haben, was der fünfte Artikel unserer Verfassung tatsächlich bedeutet.

"Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten (...). (...) Eine Zensur findet nicht statt", heißt es (etwas verkürzt) im deutschen Grundgesetz. Also ein Freibrief, alles von sich zu geben, was einem gerade durch den Kopf schießt, selbst wenn es beispielsweise volksverhetzend oder beleidigend ist? Mitnichten, denn schon der zweite (in dem Kontext gerne vergessene) Absatz des Artikels schränkt die Meinungsfreiheit deutlich ein: "Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre."

Vereinfacht ausgedrückt: Jeder Mensch hat das Recht, seine Meinung frei zu äußern, ohne juristisch verfolgt zu werden, sofern er bei dieser Meinungsäußerung keine Gesetze übertritt. Mitunter führt dieses Recht zu absurden, ja sogar regelrecht schizophrenen Situationen. Zu beobachten war das beispielsweise während der Corona-Pandemie, als sich im Zuge zahlreicher Querdenker-Veranstaltungen diverse Redner lautstark - auf Bühnen, geschützt von der Polizei - beklagten, dass Deutschland eine Diktatur sei, in der man ja nichts mehr sagen dürfe.

Öffentlich derartigen Blödsinn zu verbreiten, ist hierzulande kein Problem - schließlich sind solche Behauptungen nicht illegal und daher vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Aber wenn das so ist, verstößt dann die Zurückweisung eines entsprechenden Kommentars oder die Sperre eines Accounts nicht doch gegen die Meinungsfreiheit? Nein. Stattdessen offenbart der Verweis auf das Grundgesetz in einem solchen Fall noch eine weitere grundlegende Fehlinterpretation von Artikel 5:

Wie oben bereits erläutert, besagt der Artikel, dass der Staat eine Meinungsäußerung (unter Berücksichtigung der genannten Einschränkungen) nicht verfolgen darf. Er besagt jedoch nicht, dass die Medien verpflichtet wären, für diese Meinungsäußerung eine Plattform zur Verfügung zu stellen.