Politische Bildung vernachlässigt

33 Jahre Wiedervereinigung: Warum ICE-Trassen und Autobahnen noch keine Einheit formen

Michael Husarek

Chefredakteur der Nürnberger Nachrichten

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03.10.2023, 11:00 Uhr
1990 war die Stimmung gut: Rund eine Million Menschen feierten die wiedergewonnene deutsche Einheit - hier mit einem Transparent "West und Ost - Zukunft für Deutschland und Europa" vor dem Brandenburger Tor. 

© dpa 1990 war die Stimmung gut: Rund eine Million Menschen feierten die wiedergewonnene deutsche Einheit - hier mit einem Transparent "West und Ost - Zukunft für Deutschland und Europa" vor dem Brandenburger Tor. 

Ist er nah oder fern, der Osten? Das kommt auf die Perspektive an: Rein geografisch betrachtet ist es ein Katzensprung aus dem Großraum Nürnberg bis zur ehemaligen "Zonengrenze". Und wenn Franken in den ICE nach Berlin steigen, geht es dank guter Infrastruktur mit Tempo 300 durch den Thüringer Wald.

In Sachsen könnte die AfD stärkste Fraktion werden

Doch das ist nur die eine, die technokratische Seite der Deutschen Einheit. Nach 33 Jahren ist es tatsächlich gelungen, den Osten perfekt anzubinden. Auch die Renten sind angeglichen, doch heißt das automatisch: Friede, Freude, Eierkuchen? Gewiss nicht. Vielmehr blicken viele Wessis mit einer Mischung aus Neugier und Besorgnis in den Osten - wo die AfD sich 2024 anschickt, bei den Landtagswahlen in Sachsen die stärkste Fraktion zu werden.

Licht und Schatten: Carsten Schneider (SPD), Staatsminister und Ostbeauftragter der Bundesregierung, zeigt den Bericht zum Stand der Deutschen Einheit. Am 3. Oktober jährt sich die deutsche Wiedervereinigung zum 33. Mal.

Licht und Schatten: Carsten Schneider (SPD), Staatsminister und Ostbeauftragter der Bundesregierung, zeigt den Bericht zum Stand der Deutschen Einheit. Am 3. Oktober jährt sich die deutsche Wiedervereinigung zum 33. Mal. © Michael Kappeler, dpa

Offenbar ist bei all den Einheitsbemühungen irgendetwas auf der Strecke geblieben. Zwar vermeldet die AfD im Westen auch besorgniserregende Wahlerfolge, die Dimension in den fünf neuen Ländern ist allerdings nochmal eine andere.

Dahinter steht nicht etwa tatsächliche materielle Abgehängtheit. Die gibt es zwar auch, doch überwiegend geht es den Bürgern im Osten gut. Vielmehr ist die Skepsis gegenüber unserer Staatsform ausgeprägter. Die politische Bildung, diesen Befund kann man nach 33 Jahren mit etlichen Argumenten untermauern, wurde bei all den Straßenbaumaßnahmen und sonstigen Einheitsprojekten vernachlässigt.

Im Osten rumort es vielerorts vernehmlich

Kein erfreulicher Befund - und ein Problem, das nicht mit einigen Handgriffen zu lösen ist. Vielmehr ist Geduld gefragt. Wer mit Menschen aus dem Osten spricht, den Besser-Wessi ruhen lässt und einfach zuhört, erhält rasch einen tieferen Einblick in die Ost-Seele. Dort rumort es vielerorts vernehmlich.

Nun ist es müßig darüber nachzudenken, welche Fehler (und das waren viele, allen voran das Vorpreschen der Treuhand) zu vermeiden gewesen wären. Der Blick sollte nach vorne gerichtet werden: Denjenigen, die das Vertrauen in den freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat verloren haben, muss eine Perspektive gewiesen werden.

Sie einfach als tumbe Rechtsradikale unter einen bösen Generalverdacht zu stellen, bewirkt nur das Gegenteil. Wer montags in ostdeutschen Kleinstädten zur Protestdemo, die am Rathaus ebenso wie an der örtlichen Lokalredaktion der Tageszeitung vorbeiführt, aufbricht, dem muss erklärt werden, dass die Suche nach dem Kompromiss integraler Bestandteil der "Herrschaft des Volkes" ist. Demokratie ist Kärrnerarbeit, im Westen wie im Osten.

Und diese Kärrnerarbeit ist bei all den Bauvorhaben vernachlässigt worden. Denn es geht nicht nur um eine Rentenanpassung zwischen Ost und West, es geht vor allem darum, endlich ein gemeinsames Verständnis von der Bundesrepublik, in der wir zusammen seit 33 Jahren leben, zu entwickeln.

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