Bald in Berlin? Tessa Ganserer will in den Bundestag

7.7.2020, 05:52 Uhr

Tessa Ganserer ist angekommen, in ihrer Rolle, ihrem Leben, vielleicht irgendwann auch in ihrem Körper. Es gehe ihr gut, sagt sie, "seit letzten Freitag sogar sehr, sehr gut".

Knapp zwei Jahre ist es nun her, dass die Grünen-Politikerin sich als transident geoutet und den Markus Ganserer aus ihrem Leben verbannt hat, der für sie immer nur eine Hülle, die falsche Hülle gewesen war. Es war der Tag, an dem sich ihr Leben grundlegend geändert hat, weit mehr wohl, als sie selbst erwartet hatte. Und so sehr, dass sie jetzt für sich einen neuen Weg sucht und von der Landes- in die Bundespolitik wechseln will.

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Sie sei, erzählt Tessa Ganserer, "sehr oft gefragt worden, ob ich nicht nach Berlin will, dass ich doch eigentlich nach Berlin gehen müsste". Es ist nicht so, dass sie sich in Bayern und im Landtag nicht wohlfühlen würde. Das Klima dort sei gut, sagt die 43-Jährige, die Atmosphäre "deutlich familiärer." Freundschaften entwickeln sich im Landtag manchmal auch über Fraktionsgrenzen hinweg.

Im aufgeblähten Berliner Betrieb bleibt das die Ausnahme. Der sei "ein eigener Kosmos", eine Welt, in der "die meisten mehr oder weniger vor sich hin leben". Hier gut zweihundert Abgeordnete, dort fast 800 – schon die Zahlen beschreiben, was Ganserer meint. Auch ihr dürfte freilich bewusst sein, dass sie eine Sonderrolle leben wird, sollte sie den Sprung nach Berlin schaffen. Wo andere sich erst einmal aus der Anonymität der Masse heraus kämpfen müssen, wird ihr diese Anonymität versagt bleiben als erste transsexuelle Politikerin in der Republik.

"Ich laufe in Bayern nicht vor irgendetwas weg", versichert Ganserer. Sollte der Wechsel nach Berlin im kommenden Jahr nicht klappen, geht für sie die Welt nicht unter. "Dann werde ich weiter meine Themen im Landtag vertreten." Die Gefahr freilich ist aus heutiger Sicht gering, sollte ihre Partei sie denn für das Direkt-Mandat Nürnberg-Nord aufstellen und auf der Liste absichern. In den Umfragen bleiben die Grünen im Bund wie im Land weiter stark, auch wenn sie zwischendurch corona-bedingt ein paar Federn lassen mussten. "Wir rechnen damit, dass wir auch in Bayern ein paar Mandate mehr erringen können als vor drei Jahren", sagt Ganserer.

Klage über Berlin

Jetzt also Berlin. Es ist wie so oft bei einem Menschen, der sich für einen außergewöhnlichen Weg in seinem Leben entschieden hat – er wird darauf reduziert. Seit Tessa Ganserer ihre Transsexualität öffentlich gemacht hat, ist sie zu einer Ikone der queeren Szene geworden. Seitdem reist sie quer durch den deutschsprachigen Raum, hält Vorträge, nimmt an Diskussionen teil, jedenfalls so weit Corona das zulässt.

Tessa Ganserer ist auf einer Mission, auf die sie sich eigentlich gar nicht beschränkt sehen will. "Natürlich sind das die Themen, die mich momentan persönlich sehr stark antreiben", sagt sie. Sie kämpft gegen die Diskriminierung, die queere Menschen immer noch erfahren, egal, ob sie lesbisch, schwul oder transsexuell sind. Sie fordert vehement eine Reform des Transsexuellengesetzes ein, das die deutschen Verfassungsrichter schon mehrfach als nicht verfassungskonform verurteilt haben. Und dessen Reform dennoch weiter auf sich warten lässt. "Die Regierung in Berlin hat bisher überhaupt nichts Vernünftiges auf den Weg gebracht", klagt die Grünen-Politikerin.



Unerträglich sei "der pathologische Ansatz", der den Kern des Gesetzes bildet. Was das bedeutet, durchleidet die Nürnbergerin seit zwei Jahren. Psychologen müssen mit Gutachten bestätigen, dass sie es tatsächlich ernst meine mit ihrer Transsexualität, die Transidenten selbst müssen sich in psychotherapeutische Behandlung begeben, 18 Monate lang – als ob ein Mensch die Tortur des Outings aus Spaß auf sich nähme. Ganserer hat dafür viele Jahre gebraucht, als Kind schon gespürt, dass etwas falsch ist in ihrem Leben, als Jugendlicher das Gefühl verleugnet, sie sei eine Frau im Körper eines Mannes, geheiratet. Später hat sie die Frau, die sie zeitlebens war, allmählich akzeptiert, sich heimlich als Frau gekleidet und geschminkt, an den Wochenenden, nachts, wenn sie niemand sehen konnte und sie die Wohnung für sich allein hatte.

Es sei der Moment gewesen, hat sie einmal erzählt, da habe sie sich gefühlt, "wie wenn ein kleines Kind sein Spiegelbild zum ersten Mal so richtig bewusst erkennt". Sie sieht den Menschen, der sie ist, und den sie so lange ausgeblendet hat. Sie sieht zum ersten Mal sich selbst.

Doch es bleibt eine Flucht vor der Realität. Ganserer lebt sich weiter im Verborgenen aus, tritt tagsüber als der grüne Landtagsabgeordnete Markus Ganserer auf, kühl, zurückhaltend, nie lächelnd. In ihrem anderen Leben wechselt sie die Rolle, die Hülle, für sich allein. Bis ihre Ehefrau die Kosmetika entdeckt, die nicht ihr gehören, und ihren Mann zur Rede stellt. Markus Ganserer offenbart sich ihr, sagt, dass er kein Mann, sondern eine Frau sei. Seine Frau versteht ihn, akzeptiert, bleibt. Ihre Ehe hält bis heute.

 

Dass Tessa Ganserer weiter nicht Tessa sein kann, dass sie tagsüber den Markus Ganserer gibt, dessen Namen sie heute nicht einmal mehr lesen will, hat viel mit der deutschen Wirklichkeit einer gar nicht so aufgeklärten Gesellschaft im 21. Jahrhundert zu tun. Wer sich vor 2011 als transident outen und zu seinem wahren Geschlecht bekennen wollte, der musste sich sterilisieren lassen, musste "dauerhaft fortpflanzungsunfähig" sein, so sah es das Transsexuellengesetz vor. Andernfalls durften sie ihre Urkunden nicht auf das tatsächliche Geschlecht ändern lassen.

Eine grausame Wahl, vor die das Gesetz die Betroffenen gestellt hat. Ganserer entschied sich dagegen; sie wollte sich vom Staat nicht vorschreiben lassen, ob sie Kinder haben durfte. Und sie wollte Kinder. Heute hat sie zwei Söhne, zwei Wunschkinder, die ihr der Staat nicht zugestanden hätte, aus welcher Moralvorstellung heraus auch immer. 2011 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Zwangssterilisation gegen die Verfassung verstößt. Seitdem wenden die deutschen Behörden den Paragraph acht des Transsexuellengesetzes nicht mehr an. Im Gesetz selbst steht er gleichwohl bis heute. So wie es im Gesetz weiter heißt, nur eine Person dürfe auf Antrag vor Gericht ihren Vornamen ändern, die "seit mindestens drei Jahren unter dem Zwang steht, ihren Vorstellungen entsprechend zu leben".

Kein Wunder, dass Tessa Ganserer das Gesetz für diskriminierend und aus der Zeit gefallen hält. Sie weiß, wie sich die Realität anfühlt. Natürlich bekommt sie Zustimmung für den Schritt, den sie jetzt gegangen ist. Für ihr Outing. Für den Wechsel in ihre wahre Identität. Tessa Ganserer tritt heute als die Frau auf, die sie immer gewesen war. Mit einer Logopädin trainiert sie ihre Stimme. Sie lässt sich den Bart entfernen – "der lässt sich ja nicht wegmeditieren", sagt sie. Sie weiß, dass sie zum Vorbild, zur Hoffnungsträgerin für viele Betroffene geworden ist, die ihr schreiben, sich bei ihr bedanken.

Familie ist stabil

Und sie kennt die andere Realität. Den Schmutz, der vor allem in den sozialen Netzwerken über ihr ausgekippt wird. Den Spott, den Hohn, den sie dort ertragen muss. Natürlich wehrt sich Tessa Ganserer gegen die schlimmsten Übergriffe, gegen die Beleidigungen, die Aufrufe zum Selbstmord. Ein paar Mal hat sie schon die Staatsanwaltschaft eingeschaltet; mindestens einen Täter haben sie zur Rechenschaft gezogen und zu einer Geldauflage verdonnert. Inzwischen schaut sie seltener in die sozialen Netzwerke. Und wenn, bereitet sie sich innerlich darauf vor, auf den ganzen Hass, der ihr dort entgegenschlagen wird.

Wie es ihrer Familie ergeht, darüber redet sie nicht. Was ihre Söhne in der Schule erleben, das gehe niemanden etwas an, sagt sie. Die Familie sei stabil, das Verhältnis zueinander gut und auch der Zusammenhalt. "Aber das soziale Umfeld bleibt erfahrungsgemäß von Diskussionen nicht verschont."

Seit ihrem Outing hat Tessa Ganserer nur einen Menschen aus ihrem Freundeskreis verloren, einen, der sie als Frau nicht akzeptieren wollte und ihr das auch gesagt hatte. Das habe sie verletzt, sagt sie. Dafür habe sie viele neue Freundschaften geschlossen, sagt die 43-Jährige, "vor allem in der queeren Community". Starke Menschen seien das, sagt sie, die ihr jene Kraft zurückgegeben hätten, die sie das Outing gekostet hatte.



Und die Kraft für die Monate danach. Sicher: Im Landtag haben sie Tessa Ganserer sofort akzeptiert, lässt allenfalls die AfD erkennen, was sie von einer Transidenten hält. Wenn sie in ihrem Stimmkreis auftritt, bei Verbänden, den Kleingärtnern, dem Beamtenbund, sagt sie, erlebe sie immer wieder, wie souverän die Menschen damit umgehen können, wenn sie nur wollen. "Anstandslos" sei sie als Frau akzeptiert worden.

Gewaltige Hürden

Umso erstaunlicher ist, wie schwer der Staat sich tut. Die Hürden sind gewaltig, die er Transidenten auf dem Weg zum richtigen Körper in den Weg stellt. Ein Jahr musste Tessa Ganserer zu einer Psychotherapeutin gehen, als ob ihre Transidentität ein psychischer Ausfall sei. Doch ohne die Therapie akzeptiert die Krankenkasse die Transidentität nicht - und übernimmt die kostspieligen Behandlungen nicht.

Seit Freitag hat sie schriftlich, dass "ich als austherapiert gelte", sagt Tessa Ganserer, die den Begriff als Frechheit empfindet. Doch er mache den Weg frei für die weiteren notwendigen Schritte. Deshalb also geht es ihr "seit Freitag sehr, sehr gut". Andererseits findet sie das ganze Verfahren unerträglich und würdelos. "Wir müssen den Kassen deutlich machen, dass wir das ernst meinen, wir müssen ihnen das beweisen." Was aber eine Therapie soll, erschließt sich ihr nicht. Und wohl auch ihrer Therapeutin nicht. "Transsexualität", das sagt auch sie, "ist nicht therapierbar".

Und jetzt? Tessa Ganserer wird jetzt jene Frau, die sie immer in sich gesehen hat. Wie weit sie ihren Körper mit auf diesen Weg nimmt, behält sie für sich. Privatsache, sagt sie. Sie weiß freilich, dass "auch in dieser Gesellschaft dieser Prozess kein Zuckerschlecken ist". Schwimmbäder etwa sind tabu für Tessa Ganserer, seit sie eine Frau ist. "Ich vermeide Orte, wo es Diskussionen geben kann." Auch bei ihr, selbst bei ihr, die sich so weit in die Öffentlichkeit gewagt hat, bleibt "die Angst vor Worten und Blicken".

Jetzt also Berlin. Natürlich wäre die Grünen-Politikerin dort vor allem die queere Politikerin, die erste ihrer Art nach dem bayerischen Landtag dann im Bundestag. Und sie sieht es auch als eine ihrer Kernaufgaben, für ihre Leidensgefährten und -gefährtinnen zu kämpfen. Doch allmählich wird ihr das Korsett wohl zu eng. "Ich hätte Lust, im Bundestag wieder an anderer Stelle eine andere inhaltliche Politik zu machen und nicht nur Betroffenenpolitik." Schließlich, sagt sie, "bin ich diplomierte Försterin."