Corona und die Grundrechte: Wir müssen reden

11.10.2020, 17:53 Uhr

Polizisten kontrollieren in einer Kiez-Kneipe in Hamburg die Einhaltung der Corona-Vorgaben. © Axel Heimken, dpa

Markus Söder raunt mit Blick auf einen zweiten Lockdown, wenn man nicht aufpasse, laufe es "unweigerlich" wieder "in diese Richtung", und Kanzleramtsminister Helge Braun sagt, die "Freiheiten des Sommers" seien vorbei - so als ob Freiheit etwas ist, das den Bürgern in einer Demokratie von großzügigen Politikern gewährt werden müsste.

Es scheint, als hätte der Lockdown im Frühjahr einen Präzedenzfall geschaffen. Nämlich dafür, wie sich Grundrechte - der Definition nach ja eigentlich unveräußerlich und per Ewigkeitsklausel geschützt (so jedenfalls wird es in der Schule gelehrt) - sehr wohl einschränken lassen. Nämlich mit Verweis auf ein Bedrohung, in diesem Fall ein Virus.

Verhältnismäßigkeit verloren

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Das Argument, Ausgangssperren, Kita- und Ladenschließungen ließen sich mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit rechtfertigen, leuchtet ein, hatte aber schon damals seine Tücken: Denn es kommt ja auch niemand auf die Idee, den Straßenverkehr verbieten zu wollen, um das Leben von mehreren Tausend Menschen zu retten, die Jahr für Jahr im Verkehr umkommen. Warum? Weil Politik immer eine Frage des Ausgleichs und der Verhältnismäßigkeit ist, eine Verhältnismäßigkeit, die bei Corona teils verloren wurde. Zugute halten lässt sich den verantwortlichen Politikern, dass sie im Frühjahr unter hohem Druck und in unsicherer Faktenlage zum Handeln verdammt waren.

Richtig ist, dass die Zahl der Neuinfizierten nun erneut Grund zur Sorge gibt. Als Entscheidungsgrundlage für einen zweiten Lockdown ist diese Zahl alleine aber denkbar ungeeignet: Wenn es zutrifft, dass ein völliger Stopp des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens einer Überlastung des Gesundheitswesens zuvorkommen soll, dann sind doch zwei andere Kennzahlen viel wichtiger: Wie viele dieser Infizierten brauchen überhaupt medizinische Betreuung (ein äußerst geringer Teil) und wie ausgelastet sind die Kliniken (derzeit kaum)? Doch statt eine sachliche Debatte darüber zu führen, geht es um die vermeintliche Unvernunft junger Berliner.

Damit droht sich ein Fehler des Frühjahrs zu wiederholen, als wenige Unvernünftige mit Corona-Partys die Tatsache in den Hintergrund rücken ließen, dass sich die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung durchaus selbstverantwortlich zeigte, Abstand hielt und Menschenansammlungen mied - schon vor dem Lockdown.

Traut den Menschen etwas zu!

Es wäre das Gebot der Stunde, aus dieser Erfahrung heraus den Menschen in diesem Winter etwas zuzutrauen. Doch viele Politiker sprechen mit ihren Bürgern lieber wie mit Kindern, die es zu maßregeln gelte. Söder kündigte schon im Sommer an, die "Zügel anzuziehen" und Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Kretschmann will "die Schrauben wieder anziehen". Solch eine Rhetorik ist völlig deplatziert, möchte man meinen.



Doch bei vielen kommt sie offenbar an. Dass ein gutes Drittel der Bundesbürger seit Monaten, ungeachtet jeder Infektionszahlen, härtere Maßnahmen fordert, drängt die Frage auf, wie groß der Anteil der Deutschen ist, die sich insgeheim einen autoritären Staat wünschen, der all jenen, die ein wenig anders als die Norm leben, zeigt wo's langgeht. Umso dringender müssen wir wieder offene Debatten führen über die Verhältnismäßigkeit staatlicher Eingriffe in das Leben der Bürger. Bleiben diese Debatten aus, sind das keine guten Nachrichten für das Land und seine Freiheit.