Rechter Rand wird immer breiter

Das Geschenk Demokratie gibt es, weil wir an die Freiheit glauben - jedenfalls noch

Hans Böller

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13.09.2023, 15:00 Uhr
Die Deutschen haben sich – will man es mit Worten sagen, wie sie gerade der bayerische Politiker Hubert Aiwanger verwendete – die Demokratie 1945 nicht zurückgeholt. Sie bekamen sie neu geschenkt.

© Julian Stratenschulte, NZ Die Deutschen haben sich – will man es mit Worten sagen, wie sie gerade der bayerische Politiker Hubert Aiwanger verwendete – die Demokratie 1945 nicht zurückgeholt. Sie bekamen sie neu geschenkt.

Man könnte einmal die Schwerkraft betrachten. Oder die Photosynthese. Selbst wenn die gesamte Erdbevölkerung beschließen würde, an beide nicht mehr zu glauben: Sie würden weiter existieren. Es sind nicht verhandelbare Naturgesetze.

Demokratie, eine Erfindung

Für die Demokratie gilt das nicht. Die Demokratie ist eine Erfindung der Menschen – wie das Geld, wie Staaten, wie Menschenrechte, wie vieles, was sich der Mensch überlegt hat, um ein Zusammenleben von Gesellschaften zu ordnen. Würde eine Mehrheit der Erdbevölkerung auf die Idee kommen, dass bedrucktes Papier und Zahlenkolonnen in Computern keinen Wert darstellen, wäre das Finanzsystem am Ende.

Warum Demokratie existiert

Auch die Demokratie existiert, weil die meisten Menschen an sie glauben. Sie ist aber, im heutigen Verständnis, eine sehr junge Ordnung, der über Jahrtausende andere Ordnungen vorausgingen – an die die Menschen ebenfalls glaubten, auch, weil sie darin eine Art Naturgesetz sahen oder den Ausdruck eines göttlichen Willens.

Die Deutschen haben sich 1918, nach einem furchtbaren Krieg, die Demokratie angeeignet – und sich seither nie wieder mehrheitlich offen gegen sie entschieden. Bei den letzten noch frei zu nennenden Wahlen im März 1933 bekam die NSDAP hohen Zuspruch, aber keine Mehrheit. Hitlers Nazis pressten dem Reichstag unter Ausübung und Androhung von Gewalt das sogenannte "Ermächtigungsgesetz" ab und führten die Welt in eine Katastrophe.

Das kostbare Geschenk der Alliierten

Die Deutschen haben sich – will man es mit Worten sagen, wie sie gerade der bayerische Politiker Hubert Aiwanger verwendete – die Demokratie 1945 nicht zurückgeholt. Sie bekamen sie neu geschenkt. Von den Alliierten. Sie haben dieses Geschenk zu nutzen und zu pflegen gewusst und erlebten einen damals kaum vorstellbaren Aufschwung. Technische und wirtschaftliche Erfolge konnten und können, man muss nur auf China sehen, zwar auch Diktaturen erzielen – aber um den Preis der Freiheit.

Der rechte Rand wird breiter

Für diese Freiheit kämpften 1989 die Menschen im zweiten deutschen Staat, sie holten sich die 1933 verlorene Demokratie nach über fünf Jahrzehnten tatsächlich zurück. Das demokratische Deutschland, das den Terror der RAF und Angriffe von Rechtsextremisten überstehen musste, sah 1990 aus wie ein wunderbares Versprechen für die Zukunft.

Heute sind antidemokratische Kräfte so stark wie lange nicht mehr. Die große Mehrheit der Deutschen glaubt an die Demokratie, aber der rechte Rand wird immer breiter. Einen Pakt für Demokratie schlägt nun Renate Schmidt, Grande Dame der SPD, vor – um sichtbar zu machen, was auf dem Spiel steht. In einer Demokratie können sich die Menschen entscheiden – auch gegen sie, gegen die Freiheit. Freiheit: Das ist eine Idee, kein Naturgesetz, unsere Vorstellung davon hat Freiheit erst möglich gemacht. Von unserer Vorstellung darüber hängt ihre Zukunft ab.

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