Gerd Müller: Millionen sind auf dem Weg nach Europa

7.7.2017, 19:56 Uhr
Gerd Müller: Millionen sind auf dem Weg nach Europa

© F.: Ashraf Shazly/afp

Es ist ein Spiel von Bayern München gegen Hertha BSC Berlin, das Gerd Müller die Augen öffnet. Müller sieht sich das Spiel in einem Flüchtlingslager in Juba, der Hauptstadt des Südsudan, an, das schlimmste Lager, das er je gesehen hat. "Dort gibt es keine Kanalisation, keine Toiletten, die Menschen verrichten ihre Notdurft hinter dem Zelt. Wenn es regnet, fließt alles, was sich außen befindet, als dunkle Brühe in die Hütten herein. Dazu Fliegen, Parasiten, Katzen, Hunde – ein hochinfektiöses Gemisch", schreibt der CSU-Politiker in drastischen Worten.

Dort, in Juba, sieht er sich gemeinsam mit Bewohnern des Camps das Bundesligaspiel an, als zur Halbzeit Werbung über den Bildschirm flimmert, Werbung "für deutsche Autos, Motorräder, tolle Reisen, Glitzer und Glamour". Müller beschreibt die Hochglanzbilder als Schock, "diesen Kontrast zu erleben zu dem, was ich tagsüber gesehen hatte, an einem der finstersten Orte der Welt". Die Afrikaner um ihn herum, sie "kannten solche Bilder bereits".

Müller schildert diese Episode in seinem Buch, das er zum (vorläufigen) Ende seiner Amtszeit als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vorlegt. Der 61-jährige Schwabe, zuvor fast ein Jahrzehnt parlamentarischer Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium, will damit eines zeigen: Dank Smartphones und Fernseher wissen die Menschen in Afrika, wie gut die meisten Europäer leben. Und sie werden sich mit Zuschauen nicht abfinden, prognostiziert Müller, "sondern sich auf den Weg machen". Auf den Weg nach Europa.

Gerd Müller: Millionen sind auf dem Weg nach Europa

© Kay Nietfeld/dpa

Die Flüchtlingskrise mit ihrem bisherigen Höhepunkt im Jahr 2015 scheint insofern nur ein Vorbote noch gewaltigerer Migrationsströme zu sein. Müller warnt: "Eine neue Völkerwanderung wird die Herausforderung des Jahrhunderts werden."

Fast wie ein linker Aktivist

Der CSU-Mann ist aber niemand, der angesichts dessen in Fatalismus verfällt. Er zeigt Wege aus der Krise auf, plädiert für die Schaffung einer ökosozialen Marktwirtschaft, die den reinen, von der Welthandelsorganisation propagierten Freihandel ablösen müsse. Denn dieser münde in der Ausbeutung von Mensch und Natur – und produziere noch mehr Flüchtlinge.

Es sind Worte, die man sonst eher von linken Aktivisten kennt als von gestandenen CSU-Politikern. Nicht umsonst attestiert Franz Josef Rademacher, einer der Vordenker eben jener ökosozialen Marktwirtschaft, Gerd Müller im Vorwort des Buches, er trage ein "elementares Gerechtigkeitsgefühl in sich".

Trotzdem ist Müller auch und in erster Linie Politiker. Das merkt man "Unfair!" an. So prägnant seine Krisenanalyse und Skizze einer Lösung sind, so wenig überzeugen die Passagen, in denen er Maßnahmen wie das Textilbündnis – in dem sich Firmen verpflichtet haben, die Arbeitsbedingungen der Näherinnen in Entwicklungsländern zu verbessern – als Meilensteine rühmt, statt sie als das zu bezeichnen, was sie sind: allenfalls gute Ansätze.

Abschottung? Bringt nichts

Schon kühner gedacht ist da Müllers Initiative eines "Marshallplans mit Afrika", der einen Weg zum "Chancenkontinent" skizziert, mit grünem Wirtschaftswachstum, Bildung und Perspektiven für junge Menschen und funktionierenden Sozialsystemen. Die Formel hinter den Überlegungen (denn viel mehr als Überlegungen sind sie nicht): Haben junge Afrikaner in ihrer Heimat die Chance auf ein gutes Leben, dann kommen sie als Flüchtlinge nicht zu uns.

Mit Abschottung werde dieses Ziel dagegen nicht zu erreichen sein, ist Müller überzeugt. Schon allein wegen der demografischen Dimension nicht: Afrikas Bevölkerung wird sich bis 2050 verdoppeln – auf dann mehr als zwei Milliarden Menschen.

Gerd Müller: Unfair! Für eine gerechte Globalisierung. Murmann, 192 Seiten, 19,90 Euro.

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