Hamburger nach Halle: "Das Geschwafel ist reine Fassade"

10.10.2019, 09:43 Uhr
Jo-Achim Hamburger, Sohn des langjährigen Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Nürnberg und Stadtrats Arno Hamburger, wurde vor knapp drei Jahren an die Spitze der IKG gewählt. Er steht für Dialog und Vernetzung und einen Kurs des verstärkten Dialogs und Engagements der IKG für die und in der Stadtgesellschaft.

© Horst Linke Jo-Achim Hamburger, Sohn des langjährigen Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Nürnberg und Stadtrats Arno Hamburger, wurde vor knapp drei Jahren an die Spitze der IKG gewählt. Er steht für Dialog und Vernetzung und einen Kurs des verstärkten Dialogs und Engagements der IKG für die und in der Stadtgesellschaft.

Herr Hamburger, welche Gedanken gehen Ihnen durch den Kopf, wenn Sie Nachrichten wie aus Halle bekommen?

Hamburger: An so einem Tag kommt einiges zusammen, gerade wenn man die Ereignisse der letzten Wochen mit einbezieht. Da spaziert ein Syrer mit einem Messer in eine Synagoge und murmelt etwas von "Juden töten" – und wird am nächsten Tag freigelassen. Es kommt ein ungutes Gefühl auf, wenn Leute ungestraft auf offener Straße sagen dürfen, dass Juden keine Menschen sind oder beispielsweise der Auftritt eines Rappers mit antisemitischen Texten in Berlin erst in letzter Sekunde gestoppt werden kann.

Wie schätzen Sie die aktuelle Lage in Deutschland ein?

Hamburger: Es ist eine Atmosphäre entstanden, die wir gar nicht mehr so recht einschätzen können. Wir wissen nicht, aus welcher Richtung die Bedrohung kommt. Das macht es schwierig, weil man nicht weiß, wie man sich verhalten soll. Wir werden natürlich geschützt – aber die sogenannte Normalität existiert nicht.

Wie fest ist Ihrer Einschätzung nach der Kampf gegen Antisemitismus in der deutschen Öffentlichkeit verankert?

Hamburger: Das Ganze – entschuldigen Sie den Ausdruck – Antisemitismus-Geschwafel ist reine Fassade, wenn wir nicht reagieren. Ich bin ein wenig enttäuscht, dass nicht mehr Leute aufstehen. Es stehen die Leute auf, die selbst bedroht werden. Im Hinblick auf Parteien, Verbände oder Friedensinitiativen kann man nur sagen: Still ruht der See.


Kommentar: Wir brauchen Versöhnung statt Hass


Wünschen Sie sich mehr Solidarität vom Rest der Gesellschaft?

Hamburger: Wir wünschen uns, dass sich mehr Leute wehren. Antisemitismus ist nicht nur ein Problem der Juden, sondern der ganzen Gesellschaft. Wo Antisemitismus vorherrscht, werden die Grundfesten unserer Demokratie und unserer Freiheit erschüttert. Ich verstehe nicht, dass die Leute nicht begreifen, dass jeder Angriff auf Minderheiten ein Angriff auf alle ist. Die Deutschen waren schon einmal gleichgültig gegenüber dem, was passiert ist. Wegschauen bringt genau das, was wir aus der Geschichte kennen.

Wie stellt sich die Lage in Nürnberg dar – gibt es Drohungen oder gar Vorfälle?

Hamburger: Wir kriegen verstärkt Briefe von offensichtlichen Neonazis mit geradezu pornografischen Beschimpfungen. Ansonsten versichert uns die Polizei, dass die Gefährdungslage in Nürnberg nicht existent sei.

Das ist die Einschätzung der Polizei. Wie sieht es mit der gefühlten Bedrohung aus?

Hamburger: Man macht sich trotzdem Sorgen. Gerade wenn es einen solchen Vorfall gibt, fühlt man sich bedroht. Vielleicht nicht in der U-Bahn, da man Menschen jüdischen Glaubens nicht an ihrem Aussehen erkennen kann – außer vielleicht den Rabbi. Es ist ein Gefühl, das man nicht beschreiben kann.

Gibt es in Nürnberg besondere Schutzmaßnahmen an der Synagoge?

Hamburger: Ohne ins Detail zu gehen – wir haben die Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, die uns von Bundeskriminalamt, Landeskriminalamt und Innenministerium empfohlen wurden. Hundertprozentige Sicherheit kann es aber nie geben. Den Verbrechern wird es jedoch nicht gelingen, unser Leben aufzuhalten.

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